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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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auf meiner am Boden liegenden Mutter saß, sodass sie kaum Luft bekam, und ihren Kopf gegen die Wand schlug. Mein Vater, wie er, als ich fünf war, meine Schwester und mich mitten in der Nacht aus dem Bett holte und fragte, ob wir für immer mit ihm fortgehen wollten, während meine Mutter, blutverschmiert und meinen kleinen schlafenden Bruder im Arm, danebenstand und ihn anflehte, damit aufzuhören. Als wir weinten, statt zu antworten, fiel er auf die Knie, drückte seine Stirn gegen den Boden und schrie so verzweifelt, dass ich mir sicher war, wir würden jetzt alle gleich sterben.
    Einmal, bei einem seiner Wutanfälle, drohte er damit, meine Mutter »mitsamt ihren Kindern« nackt auf die Straße zu jagen, als wären wir nicht ebenso auch seine Kinder gewesen. Damals wohnten wir in Minnesota. Es war Winter, als er diese Drohung ausstieß. Ich war in einem Alter, in dem man alles wörtlich nimmt. Und ich hätte ihm so etwas ohne weiteres zugetraut. Ich sah uns vier schon nackt und schreiend durch Eis und Schnee laufen. Als wir in Pennsylvania wohnten, sperrte er Leif, Karen und mich ein paarmal aus, wenn unsere Mutter bei der Arbeit war und er sich um uns kümmern sollte, aber seine Ruhe haben wollte. Er befahl uns, in den Garten hinterm Haus zu gehen, und schloss die Tür ab. Unser kleiner Bruder konnte damals kaum laufen, und meine Schwester und ich hielten ihn an seinen Gummihändchen. Wir gingen weinend durchs Gras, vergaßen unseren Schrecken und spielten Vater-Mutter-Kind und Rodeo Queen. Als es uns nach einer Weile langweilig wurde, kehrten wir zur Hintertür zurück, hämmerten wütend dagegen und brüllten. Ich erinnere mich noch ganz deutlich an die Tür und an die drei Betonstufen, die zu ihr hinaufführten, und wie ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, damit ich durch die Glasscheibe in der oberen Türhälfte schauen konnte.
    Die schönen Erinnerungen sind kein Film. Es sind nicht genug für einen Film. Die schönen Erinnerungen sind ein Gedicht, kaum länger als ein Haiku. Zum Beispiel seine Liebe zu Johnny Cash und den Everly Brothers. Oder die Schokoriegel, die er aus dem Lebensmittelgeschäft, in dem er arbeitete, mit nach Hause brachte. All die hochfliegenden Pläne, die er hatte, seine Sehnsucht, so hilflos und bemitleidenswert, dass selbst ich es spürte und ihn bedauerte, obwohl ich noch ein Kind war. Wie er dieses Lied von Charlie Rich sang, in dem es heißt: »Hey, did you happen to see the most beautiful girl in the world?«, und wie er dann sagte, dass es von mir, meiner Schwester und meiner Mutter handele, dass wir die schönsten Mädchen auf der Welt seien. Aber selbst darauf liegt ein Schatten. Es sagte das nur, wenn er meine Mutter dazu rumkriegen wollte, zu ihm zurückzukommen, verbunden mit leeren Versprechungen wie, dass sich jetzt alles ändern werde, dass er nie wieder so etwas tun werde.
    Er tat es immer wieder. Er war ein Lügner und ein Charmeur, ein Herzensbrecher und ein Schläger.
    Meine Mutter packte uns ein, verließ ihn und kehrte zu ihm zurück, verließ ihn und kehrte zu ihm zurück. Wir kamen nie weit. Wir konnten nirgendwohin. Wir hatten keine Verwandten in der Nähe, und meine Mutter war zu stolz, um ihre Freunde zu behelligen. Das erste Frauenhaus in den Vereinigten Staaten wurde erst 1974 eröffnet, im selben Jahr, in dem meine Mutter meinen Vater endgültig verließ. Stattdessen fuhren wir immer die ganze Nacht durch, Leif vorn bei unserer Mutter, meine Schwester und ich auf dem Rücksitz, wo wir abwechselnd schliefen und die fremdartigen grünen Lichter auf dem Armaturenbrett beobachteten.
    Am Morgen waren wir dann wieder zu Hause. Unser Vater war nüchtern, machte Rühreier und sang irgendwann dieses Lied von Charlie Rich.
    Ein Jahr nach unserem Umzug von Pennsylvania nach Minnesota machte meine Mutter endgültig mit ihm Schluss. Ich war damals sechs. Ich weinte und flehte meine Mutter an, es nicht zu tun. Scheidung war für mich damals das Schlimmste, was passieren konnte. Trotz allem liebte ich meinen Dad, und ich ahnte, dass ich ihn verlieren würde, wenn meine Mutter sich von ihm scheiden ließ, und ich hatte recht. Nach ihrer endgültigen Trennung blieben wir in Minnesota, und er kehrte nach Pennsylvania zurück und ließ nur sporadisch von sich hören. Ein- oder zweimal im Jahr kam ein Brief, adressiert an Karen, Leif und mich, und wir rissen ihn mit freudiger Erwartung auf. Doch er enthielt nur Schmähungen gegen unsere Mutter: dass sie eine Hure

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