Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
sei, eine blöde Sozialschnorrerin und Schlampe, die von der Stütze lebe. Eines Tages würde er uns alle kriegen, drohte er. Eines Tages würden wir dafür bezahlen.
»Aber wir haben nicht dafür bezahlt«, hatte ich zu Vince bei unserer zweiten und letzten Sitzung gesagt – bei unserem nächsten Treffen sollte er mir eröffnen, dass er den Beratungsjob aufgebe, und mir den Namen und die Telefonnummer eines Kollegen geben. »Nach der Scheidung meiner Eltern«, fuhr ich fort, »erkannte ich, dass die Trennung von meinem Vater, so traurig das auch klingen mag, gut für mein Leben war. Es gab keine Gewalt mehr. Ich meine, stellen Sie sich vor, wie mein Leben ausgesehen hätte, wenn ich von meinem Vater großgezogen worden wäre.«
»Stellen Sie sich vor, wie Ihr Leben ausgesehen hätte, wenn Sie einen Vater gehabt hätten, der Sie so liebte, wie es ein Vater tun sollte«, entgegnete Vince.
Ich versuchte, es mir vorzustellen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich konnte das Ganze nicht in einzelne Punkte aufdröseln, um dann bei Liebe oder Geborgenheit, bei Vertrauen oder Zugehörigkeitsgefühl zu landen. Ein Vater, der einen so liebte, wie es ein Vater tun sollte, war mehr als seine Teile. Er war wie der weiße Wirbel auf dem »Sie befinden sich hier«-Poster an der Wand hinter Vince. Er war ein riesiges, unerklärliches Ding, das eine Million anderer Dinge in sich barg, und da ich nie einen gehabt hatte, fürchtete ich, mich in diesem großen weißen Wirbel niemals zu finden.
»Was ist mit Ihrem Stiefvater?«, fragte Vince. Er blickte in das Notizbuch auf seinem Schoß und las, was er hineingekritzelt hatte, vermutlich über mich.
»Eddie. Auch er geht auf Distanz«, sagte ich leichthin, als bedeute mir das nichts, als fände ich es beinahe amüsant. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr, die neben dem Poster hing. »Und die Zeit ist fast rum.«
»Noch mal Glück gehabt«, sagte Vince, und wir lachten.
Im matten Licht der Straßenlaternen, das in mein Zimmer in Sierra City fiel, konnte ich die Umrisse des Monsters sehen. Die Feder, die Doug mir geschenkt hatte, ragte dort, wo ich sie festgeklemmt hatte, aus dem Rahmen. Ich dachte über Rabenkunde nach. Ich fragte mich, ob die Feder wirklich ein Symbol oder einfach nur ein Gegenstand war, den ich mitschleppte. So fest ich an manche Dinge glaubte, so wenig glaubte ich an andere. Ich war eine Suchende und eine Zweifelnde. Ich wusste nicht, woran ich glauben sollte, ob es etwas gab, woran ich glauben konnte. Ja, ich wusste nicht einmal, was das Wort Glaube in seiner ganzen Komplexität überhaupt bedeutete. Alles konnte wahr, aber ebenso gut auch ein Schwindel sein. »Du bist eine Suchende«, hatte meine Mutter eine Woche vor ihrem Tod auf dem Sterbebett zu mir gesagt, »wie ich.« Aber ich wusste nicht, was meine Mutter eigentlich suchte. Wusste sie es? Dies war die eine Frage, die ich nie gestellt hatte, aber selbst wenn sie es mir gesagt hätte, hätte ich daran gezweifelt und sie gedrängt, mir zu erklären, woran sie glaubte, sie gefragt, wie es sich beweisen ließe. Ich zweifelte sogar an Dingen, die nachweislich wahr waren. Du solltest zu einem Therapeuten gehen, hatten mir alle nach dem Tod meiner Mutter geraten, und schließlich – in meinen dunkelsten Stunden in dem Jahr vor der Wanderung – hatte ich es auch getan. Aber ich verlor den Glauben. Ich rief den anderen Therapeuten, den mir Vince empfohlen hatte, nie an. Ich hatte Probleme, die ein Therapeut nicht lösen konnte, Kummer, den kein Mensch in einem Zimmer lindern konnte.
Ich stieg nackt aus dem Bett, band mir ein Handtuch um, trat barfüßig auf den Gang hinaus und tapste an Gregs Tür vorbei. Im Badezimmer angekommen, schloss ich die Tür hinter mir, drehte den Hahn an der Badewanne auf und stieg hinein. Das heiße Wasser war wunderbar. Sein Rauschen erfüllte den Raum, bis ich es abdrehte, und die Stille, die dann eintrat, erschien mir noch stiller als die davor. Ich legte mich in der perfekt geformten Keramik zurück und starrte an die Wand, bis es an die Tür klopfte.
»Ja?«, rief ich, aber es kam keine Antwort, nur das Geräusch sich entfernender Schritte auf dem Flur. »Besetzt«, rief ich, obwohl das offensichtlich war. Jemand war hier drin. Ich war hier drin. Ich war es. Ich spürte es wie seit Ewigkeiten nicht mehr: das Ich in mir, das meinen Platz in der unergründlichen Milchstraße besetzte.
Ich nahm einen Waschlappen aus dem Regal neben der
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