Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Wanne und wusch mich damit, obwohl ich schon sauber war. Ich schrubbte mir das Gesicht, den Hals, die Brust und den Bauch, den Rücken und den Hintern, die Arme, die Beine und die Füße.
»Als ihr auf die Welt gekommen seid, habe ich zuallererst jeden Körperteil von euch geküsst«, sagte meine Mutter immer zu meinen Geschwistern und mir. »Ich habe jeden Finger, jede Zehe, jede Wimper gezählt. Ich bin eure Handlinien nachgefahren.«
Ich erinnerte mich nicht daran, und doch hatte ich es nie vergessen. Es war genauso ein Teil von mir wie die Drohung meines Vaters, mich aus dem Fenster zu werfen. Mehr.
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen, tauchte meinen Kopf unter Wasser, bis es mein Gesicht bedeckte. Ich hatte dasselbe Gefühl wie als Kind, wenn ich das getan hatte: als wäre die bekannte Welt des Badezimmers verschwunden und, einfach nur durch das Untertauchen, zu einem fremden, geheimnisvollen Ort geworden. Die gewohnten Geräusche und Sinneseindrücke waren gedämpft, wirkten weit weg und abstrakt, und andere Geräusche und Sinneseindrücke, die ich normalerweise nicht wahrnahm, traten an ihre Stelle.
Ich hatte gerade erst angefangen. Ich war erst drei Wochen unterwegs, aber alles in mir fühlte sich verändert an. Ich lag so lange im Wasser, wie ich die Luft anhalten konnte, allein in diesem fremden neuen Land, während die wirkliche Welt um mich herum sich weiterdrehte.
9 –
Kurs halten
Ich war dem Schnee aus dem Weg gegangen. Hatte ihn übersprungen. Ich war jetzt außer Gefahr. Der Weg durch das restliche Kalifornien war frei – nahm ich jedenfalls an. Danach durch Oregon nach Washington. Mein neues Ziel war eine Brücke, die den Columbia River, der die Grenze zwischen den beiden Staaten bildete, überspannte. Die Brücke der Götter. Sie war 1622 Trail-Kilometer entfernt. Bisher hatte ich nur 274 zurückgelegt, aber mein Tempo wurde besser.
Am Morgen wanderten Greg und ich auf dem Randstreifen der Straße zweieinhalb Kilometer aus Sierra City hinaus bis zu der Stelle, wo sie den PCT kreuzte. Dann folgten wir dem Trail ein paar Minuten lang zusammen, ehe wir stehen blieben und uns voneinander verabschiedeten.
»Viel Glück«, sagte er und sah mich aus seinen braunen Augen an.
»Auch Ihnen viel Glück.« Ich zog ihn in eine feste Umarmung.
»Bleiben Sie am Ball, Cheryl«, sagte er, drehte sich um und wanderte los.
»Sie auch«, rief ich ihm nach, als würde er das nicht ohnehin tun.
Zehn Minuten später war er meinem Blick entschwunden.
Ich freute mich, wieder auf dem Trail zu sein, 720 PCT-Kilometer nördlich von der Stelle, wo ich ausgestiegen war. Die verschneiten Gipfel und hohen Granitfelsen der High Sierra waren nicht mehr zu sehen, und dennoch kam mir der Trail unverändert vor. In vielerlei Hinsicht sah er genauso aus. Trotz der endlosen Berg- und Wüstenpanoramen, die ich gesehen hatte, war mir der Anblick des einen halben Meter breiten Wanderpfads noch am vertrautesten. Meine Augen waren fast ununterbrochen darauf gerichtet, hielten Ausschau nach Wurzeln und Ästen, Schlangen und Steinen. Manchmal war der Pfad sandig, dann wieder felsig, schlammig oder steinig oder dicht mit Kiefernnadeln bedeckt. Er konnte schwarz oder braun, grau oder beige sein, aber er war immer der PCT. Mein Zuhause.
Ich wanderte unter Kiefern, Eichen und Weihrauchzedern, dann, als der Trail sich bergauf schlängelte, durch einen Wald aus Douglasien. Ich sah den ganzen Vormittag über keinen Menschen, aber ich spürte Gregs Nähe. Dieses Gefühl schwand mit jedem Kilometer, denn ich nahm an, dass sein Vorsprung ständig wuchs, wenn er sein übliches Höllentempo anschlug. Der Trail führte aus dem schattigen Wald auf einen baumlosen Kamm, der mir einen weiten Blick in den Canyon unter und auf die Felstürme über mir bot. Gegen Mittag befand ich mich in 2100 Meter Höhe. Der Pfad wurde schlammig, obwohl es seit Tagen nicht geregnet hatte, und wenig später stieß ich hinter einer Biegung auf ein Schneefeld. Jedenfalls hielt ich es für ein Schneefeld, denn ich ging davon aus, dass es ein Ende hatte. Ich blieb am Rand stehen und suchte nach Gregs Fußstapfen, entdeckte aber keine. Der Schnee lag nicht an einem Hang, sondern auf einer ebenen Fläche zwischen schütterem Wald, und das war gut so, denn ich hatte meinen Eispickel nicht mehr. Ich hatte ihn am Morgen in der Umsonstkiste für PCT-Wanderer an der Poststelle von Sierra City zurückgelassen, als ich mit Greg zur Stadt hinausmarschiert war.
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