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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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    Ich schwitzte unter dem Rucksack. Mein Rücken war ständig von oben bis unten nass, ganz gleich wie kalt es war oder was ich anhatte. Wenn ich stehen blieb, begann ich schon nach wenigen Minuten zu zittern, da meine feuchten Kleider eiskalt wurden. Meine Muskeln hatten sich mittlerweile an die Anforderungen des Fernwanderns gewöhnt, aber nun wurde ihnen mehr abverlangt, als mich nur auf den Beinen zu halten. Wenn ich einen Hang querte, musste ich vor jedem Schritt eine Stufe hacken, damit ich festen Stand fand und nicht in die Tiefe rutschte und unten in Felsen, Büsche oder Bäume krachte oder, schlimmer noch, in einen Abgrund stürzte. Meter für Meter musste ich in die vereiste Schneekruste Löcher stampfen, die mir sicheren Halt gaben. Greg hatte mir in Kennedy Meadows beigebracht, wie man so etwas mit einem Eispickel machte. Jetzt dachte ich voller Wehmut an meinen Pickel und stellte mir vor, wie er nutzlos in der Umsonstkiste in Sierra City stand. Vom ständigen Treten und Stampfen bekam ich Blasen an den Füßen, und nicht nur an den Stellen, wo ich schon in den ersten Tagen der Wanderung welche gelaufen hatte. Und wieder scheuerte ich mir an den Gurten des Monsters Hüften und Schultern wund.
    Ich kam nur quälend langsam voran, wie auf einem Büßergang. An den meisten Tagen hatte ich bisher etwa drei Kilometer in der Stunde geschafft, aber im Schnee war alles anders: mühsamer, gefährlicher. Bis Belden Town hatte ich sechs Tage veranschlagt, doch als ich meinen Proviantbeutel entsprechend bestückte, hatte ich nicht ahnen können, was mich erwartete. Unter diesen Bedingungen würden mir sechs Tage nie und nimmer reichen, und nicht nur, weil das Wandern im Schnee eine körperliche Strapaze war. Bei jedem Schritt musste ich auch darauf achten, dass ich wenigstens ungefähr der Route des PCT folgte. Mit Karte und Kompass in der Hand versuchte ich, mir die Lektionen aus meinem Kompasshandbuch Staying Found , das ich längst verbrannt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Viele Methoden wie Triangulation oder Kreuzpeilung hatten mich schon verwirrt, als ich das Buch noch besaß und darin nachschlagen konnte. Ohne Buch war es mir unmöglich, sie einigermaßen sicher anzuwenden. Ich hatte nie einen Sinn für Mathematik gehabt. Ich konnte Formeln und Zahlen einfach nicht im Kopf behalten. Mit dieser Art von Logik konnte ich nie viel anfangen. Für mich war die Welt keine Kurve, keine Formel, keine Gleichung. Sie war eine Geschichte. Deshalb hatte ich mich in erster Linie an die Beschreibungen im Wanderführer gehalten, sie immer wieder gelesen, mit den Karten abgeglichen und versucht, Sinn und Zweck jedes Wortes oder Satzes zu erraten. Als hätte ich eine Prüfungsfrage zu lösen: Wenn Cheryl auf einem Bergkamm eine Stunde lang in einem Tempo von 2,5 Kilometern pro Stunde nach Norden wandert, dann nach Westen zu einem Sattel, von dem sie im Osten zwei lang gestreckte Seen sehen kann, steht sie dann auf der Südflanke von Gipfel 7503?
    Ich stellte Vermutungen an, nahm Messungen vor, las, legte Pausen ein, rechnete und zählte, bevor ich von dem, was mir richtig erschien, wirklich überzeugt war. Zum Glück lieferte dieser Abschnitt des Trails viele Orientierungshilfen in Form von Gipfeln, Felsen, Seen und Teichen, die vom Pfad aus zu sehen waren. Ich hatte immer noch das gleiche Gefühl wie zu Anfang, als ich die Sierra Nevada von Süden her zu durchwandern begann – das Gefühl, von oben auf die Welt hinabzublicken. Ich wanderte von Kamm zu Kamm, atmete erleichtert auf, wenn ich dort, wo die Sonne den Schnee weggeschmolzen hatte, nackte Erde sah, zitterte vor Freude, wenn von mir identifizierte Gewässer oder Felsformationen mit dem übereinstimmten, was in der Karte verzeichnet oder im Wanderführer beschrieben war. In solchen Augenblicken fühlte ich mich stark und ruhig, doch schon wenig später blieb ich wieder stehen, überprüfte noch einmal meine Position und gelangte zu der Überzeugung, dass mein Entschluss, weiterzugehen, eine Riesendummheit gewesen war. Manche Bäume am Wegrand kamen mir so verdächtig bekannt vor, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre vor einer Stunde schon einmal an ihnen vorbeigekommen. Oder ich blickte auf eine lang gestreckte Bergkette, die mich stark an die lang gestreckte Bergkette erinnerte, die ich davor gesehen hatte. In der Hoffnung, die beruhigende Spur eines Menschen zu entdecken, suchte ich den Schnee nach Fußstapfen ab, aber ich entdeckte keine. Ich fand nur

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