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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Mangels Geld hatte ich ihn nicht Lisa schicken können, was ich sehr bedauerte, wenn ich daran dachte, wie viel er gekostet hatte, aber ich hatte ihn auch nicht mitschleppen wollen, da ich annahm, dass ich keine Verwendung für ihn haben würde.
    Ich rammte den Skistock in den Schnee, trat auf die verharschte Oberfläche und marschierte los, kam aber nur mühsam voran. An manchen Stellen rutschte ich weg, an anderen brach ich ein, manchmal bis fast zu den Knien. Bald stand knöchelhoch Schnee in meinen Stiefeln, und meine Unterschenkel brannten, als wäre mir mit einem stumpfen Messer das Fleisch abgekratzt worden.
    Das bereitete mir allerdings weniger Sorge als der Umstand, dass ich den Trail nicht mehr sehen konnte, da er unter dem Schnee begraben war. Die Richtung schien trotzdem einigermaßen klar, und um mich zu vergewissern, behielt ich den Wanderführer in der Hand und las im Gehen darin. Nach einer Stunde blieb ich stehen. Ich bekam es mit der Angst. War ich noch auf dem PCT? Ich hatte die ganze Zeit nach den kleinen, rautenförmigen PCT-Schildern Ausschau gehalten, die gelegentlich an Bäumen befestigt waren, aber kein einziges entdeckt. Das war nicht unbedingt ein Grund zur Beunruhigung. Meiner Erfahrung nach war auf diese Schilder kein Verlass. Auf manchen Streckenabschnitten tauchte alle paar Kilometer eines auf, dann wieder konnte man tagelang wandern, ohne ein einziges zu entdecken.
    Ich zog die topografische Karte der Gegend aus der Hosentasche. Dabei rutschte das Fünf-Cent-Stück mit heraus und fiel in den Schnee. Ich bückte mich, etwas wackelig mit dem schweren Rucksack, und wollte es aufheben, doch in dem Moment, als ich es mit den Fingern leicht berührte, sank es tiefer ein und verschwand. Ich durchwühlte den Schnee, doch es blieb verschwunden.
    Jetzt hatte ich nur noch sechzig Cent.
    Ich dachte an das Fünf-Cent-Stück, mit dem ich in Las Vegas an den Automaten gespielt und sechzig Dollar gewonnen hatte. Ich musste laut lachen, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese beiden Geldstücke etwas verband. Ich weiß auch nicht, warum. Der verrückte Gedanke kam mir einfach so, während ich dort im Schnee stand. Vielleicht brachte mir der Verlust des Geldstücks ja auf die gleiche Weise Glück wie die schwarze Feder, die zwar Leere symbolisierte, in Wirklichkeit aber für etwas Positives stand. Vielleicht steckte ich momentan gar nicht in genau den Schwierigkeiten, die ich unbedingt hatte vermeiden wollen. Vielleicht hatte der Schnee hinter der nächsten Biegung ja ein Ende.
    Ich zitterte mittlerweile in meinen Shorts und meinem durchgeschwitzten T-Shirt, wagte aber nicht weiterzugehen, solange ich nicht genau wusste, wo ich war. Ich schlug den Führer auf und las, was die Autoren von The Pacific Crest Trail, Volume I: California über diesen Abschnitt des Wanderwegs zu sagen hatten. »Vom Trail aus blickt man auf einen gleichmäßigen, von Sträuchern gesäumten Anstieg«, beschrieben sie die Stelle, an der ich zu stehen glaubte. »Schließlich flacht der Trail ab und mündet auf eine kleine, spärlich bewaldete Hochfläche …« Ich drehte mich langsam im Kreis und blickte in die Runde. War das eine kleine, spärlich bewaldete Hochfläche? Es hatte ganz den Anschein, aber sicher war es nicht. Sicher war nur, dass alles mit Schnee bedeckt war.
    Ich griff nach meinem Kompass, der neben der lautesten Pfeife der Welt mit einer Schnur am Rucksack befestigt war. Seit jenem Tag nach meiner anstrengenden ersten Woche auf dem Trail, an dem ich diese Straße entlangmarschiert war, hatte ich ihn nicht mehr benutzt. Ich legte ihn auf die Karte, ermittelte so gut es ging meinen Standort und setzte meinen Weg fort, wobei ich abwechselnd über den verharschten Schnee rutschte oder einbrach und mir dabei jedes Mal die Schienbeine und Waden noch etwas mehr aufscheuerte. Eine Stunde später erspähte ich an einem schneebedeckten Baum eine Metallraute, auf der Pacific Crest Trail stand, und atmete erleichtert auf. Ich wusste zwar noch immer nicht genau, wo ich mich befand, aber wenigstens hatte ich jetzt die Gewissheit, dass ich auf dem PCT war.
    Am späten Nachmittag gelangte ich auf einen Bergkamm, von dem ich in einen verschneiten Talkessel blicken konnte.
    »Greg!«, rief ich, um festzustellen, ob er in der Nähe war. Ich hatte den ganzen Tag keine Spur von ihm entdeckt, rechnete aber ständig mit seinem Auftauchen, denn ich hoffte, er kam im Schnee so langsam voran, dass ich ihn irgendwann einholte und

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