Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
alle auf Frauen und Minderjährige, auch die Vermögensteile von gefangenen, verschwenderischen oder geisteskranken Männern waren dabei. Endlich stieß er auf ein kleines Wesen, las »Lee, Heinrich, Rudolfen sel.« und reichte es dem Vorsitzenden.
Dieser enthüllte ein gebräuntes altes Pergament, an welchem ein halbzerbröckeltes Siegel von grauem Wachse hing. Er legte sein messingenes Brillengeschirr um das Haupt und entfaltete das ehrwürdige Schriftstück, dasselbe weit von sich abhaltend. »Dem Landschreiber, der die Gült ausgefertigt hat, tun die Zähne auch nicht mehr weh!« bemerkte er, »sie ist von Martini 1539 datiert, ein gutes altes Wertstück.« Zugleich richtete er einen ernsten Blick auf mich, der ihm jedoch durch die Brille, die nur zum Lesen gut war, ganz nebelhaft erscheinen mußte.
»Seit dreihundert Jahren«, fuhr er fort, »ist dieser ehrwürdige Brief von Geschlecht zu Geschlecht gegangen und hat immer fünf vom Hundert Zinsen getragen!«
»Wenn wir sie nur hätten«, warf mein Oheim lachend ein, um die abermals auf mich gerichtete Aufmerksamkeit zu stören; »mein Neffe besitzt das Brieflein ja erst seit etwa zehn Jahren, und vor nicht vierzig Jahren noch gehörte es dem Kloster, dessen Abt es zur Zeit der Revolution verkaufte. Man kann überhaupt nicht auf solche Weise rechnen; es ist ebenso unrichtig, wie wenn man immer sagt, diese drei Greise sind zusammen 270 Jahre oder jene zwei Eheleutchen 160 Jahre alt! Nein, jene Greise sind alle drei zusammen nur neunzig Jahre alt, Mann und Frau achtzig, da es genau dieselben Jahre sind, die sie verlebt haben. So vertut der junge Künstler hier nicht die Zinsen von drei Jahrhunderten, wenn er das Brieflein verkauft, sondern nur den einfachen Betrag desselben!«
Das wußten die Männer freilich wohl; weil aber jeder von ihnen auf seinem Hofe solche uralte unablösliche Schuldverpflichtungen hatte und sich selbst als den Bezahler aller der ewigen Zinsen betrachtete, so hielten sie die nehmende Hand der wechselnden Gläubiger für etwas ebenso Unsterbliches und legten dem betreffenden Instrumente einen geheimnisvoll höhern Wert bei, als ihm zukam. So fiel endlich das Wichtigkeitsgefühl der Verhandlung auch auf mich nieder und beengte mir den Sinn Ich sah mich als Gegenstand ernster Anrede und rechtlichen Verfahrens, leidend und verantwortlich zugleich, ohne daß ich etwas begangen hatte oder zu begehen willens war, nach meiner Ansicht, und strebte mit verdoppeltem Eifer, aus der unfreien Lage hinauszukommen. »Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt!« singt der Student von den Philistern, nicht merkend, daß er selber erst auf dem Wege ist, es zu lernen.
Zehntes Kapitel
Der Schädel
Das alte Pergament war nun an einen Sammler solcher Stücke mit einigem Vorteil verkauft worden und die Zeit gekommen, wo die Abreise wirklich vor der Türe stand. Am letzten Tage des Monats April, welcher auf den Sonnabend fiel, packte ich die mitzuführenden Habseligkeiten zusammen, was in unserer Wohnstube einen niegesehenen Auftritt gab und meine Mutter in Aufregung setzte. Eine große Mappe mit den zweifelhaften Früchten meiner bisherigen Tätigkeit lehnte schon in Wachstuch gewickelt an der Wand, zu einigem Troste wenigstens von bedeutendem Gewicht; mitten im Gemache aber stand der geöffnete Koffer, eine kleine Arche von Tannenholz. Auf dem Boden derselben hatte ich bereits eingeschichtet, was ich an Büchern mitnehmen wollte, und mit ihnen auch ein festes Verlies für einen Totenschädel gebaut, damit er sicher auf dem Grunde verwahrt sei. Dieser Schädel diente seit einiger Zeit zur Zierde meiner Arbeitskammer sowie auch zum angehenden Studium der menschlichen Gestalt, das für einmal freilich gleich mit dem Unterkiefer ein Ende genommen hatte, so daß ich vorläufig bloß die verschiedenen Kopfknochen zu benennen wußte. Ich hatte den Überrest in der Ecke eines Friedhofes bemerkt, wo ihn der Totengräber seiner Wohlerhaltenheit wegen hingelegt haben mochte; denn es war der Schädel eines jungen Mannes und wies noch alle Zähne auf. In der Nähe lag ein beseitigter alter Grabstein, der vor ungefähr achtzig Jahren errichtet worden mit der Inschrift auf einen dazumal verstorbenen Albertus Zwiehan. Obgleich es keineswegs erwiesen war, daß der Schädel diesem Zwiehan angehört hatte, nahm ich das doch für ein Faktum, weil sich laut der handschriftlichen Familienchronik eines benachbarten Hauses die wunderlichste kleine Geschichte mit jenem Namen
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