Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Umwenden der Blätter zu, auf welchen soviel Schönheit und Talent vorüberschwirrte, und nur Erikson legte zuweilen die Hand auf ein Blatt, um dasselbe einen Augenblick festzuhalten. »Ich muß gestehen«, sagte er endlich, »es ist mir nicht ganz begreiflich, wie man soviel Genie unterdrücken oder höchstens zu geheimen Allotria verwenden kann! Wieviel Vergnügen vermöchten Sie zu verbreiten, wenn Sie all dies Können einem ernsten Zwecke zu gut kommen ließen!«
Lys zuckte die Achseln: »Genie? Wo ist es? Das ist eben die Frage! Auch das wildeste Wesen dieses Geschlechtes muß fromm sein und einfältig wie ein Kind, wenn es allein ist und arbeitet. Mir fehlt vielleicht die Frommheit oder Frommkeit; ich bin nie allein, sondern alle Hunde sind bei mir, mit denen ich gehetzt bin!«
Wir verstanden diese Worte, die zudem im Widerspruche mit der früheren Äußerung standen, daß man alles könne, nicht sonderlich wohl, und ich selber wußte vollends nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Ich fühlte mich zu dem hübschen, ruhigen, ja ernsten Manne hingezogen, während der Inhalt des Buches auf eine gewisse Art von Ruchlosigkeit deutete, die mancher wohl sich selber verzeihen mag, aber nicht an einem ernsthaften Freunde liebt.
Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe, das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, wo es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden, oder einfacher gesagt, wer sich nicht wehrt, den fressen die Wölfe.
Inzwischen waren wir beim letzten der gezeichneten Blätter angelangt, auf welches noch einige leere folgten, und Lys wollte das Album rasch zuschlagen. Erikson hielt ihn jedoch auf und verlangte das letzte Bild genauer zu sehen; denn alle bisher aufgetretenen Personen waren italienischen Ursprungs, jene aber offenbar von deutscher Art. Der Kopf war nicht, wie bei den andern, zuerst als Studie besonders gezeichnet, sondern es erschien gleich, als ob das Haupt nicht wohl abzusondern wäre, die ganze stehende Figur des schlanksten jungen Mädchens, dessen in großen Zöpfen aufgewundenes Haar so reich, daß das Haupt beinah zu schwanken schien, wie eine Nelke auf ihrem Stengel, obgleich der feingerundete Hals und Nacken nur aus natürlicher Anmut sich leise neigte. Außer zwei unschuldigen großen Sternenaugen war fast kein Inhalt in dem Gesicht, dessen zarte Züge kaum mit dem Silberstifte leicht genug anzudeuten waren, den der Zeichner dazu gewählt hatte. Desto sicherer und fester, immer zwar mit zarter Hand, wuchs die herb jungfräuliche Erscheinung durch die strengen Gewänderfalten ins Licht, an denen kein Strich zuviel und keiner zuwenig war.
»Ei der Tausend!« rief Erikson, »wo steht diese Blume?«
»Die steht hier in der Stadt!« versetzte Lys, »ihr könnt sie gelegentlich sehen, wenn ihr brav seid!«
Ich jedoch, gerührt von der elementarischen Unschuld des Gebildes, rief unbedacht und flehentlich: »Der tun Sie aber kein Leid an, nicht wahr?«
»Oho«, sagte Lys lachend, indem er mir auf die Schulter klopfte, »was sollt ich ihr denn zuleid tun?«
Auch Erikson lachte, und somit brachen wir auf, unsern Abendgang in Begleitung des Niederländers anzutreten. Im Vorübergehen sahen wir die drei schönen Bilder wieder aufleuchten, ich für meine Person zum letzten Male; denn ich bekam sie später nur in einer grauen Morgendämmerung nochmals zu Gesicht, als ich kaum darauf achten konnte. Wo sie seither geblieben sind, weiß ich nicht; sie sind niemals an die Öffentlichkeit gelangt, und Lys selber hat sich in der Folge durch ein Schwanken seines Wesens von der Kunst abgewendet. Wenn es Sterne gibt, wie gesagt wird, welche man einen Augenblick lang deutlich hat schwanken sehen, warum sollte ein schwacher Mensch nicht von seiner Bahn abweichen?
Wir gingen nun zu dritt vom nördlichen Teile der Stadt an den Westrand hinüber, um da allmählich am Ufer des südwärts herkommenden Flusses eine behagliche Ruhstatt aufzusuchen. Unterwegs kamen wir an dem Hause vorbei, darin ich wohnte. »Halt!« sagte Erikson, als wir andere vorübergehen wollten, »wir wollen bei diesem auch noch schnell nachsehen, was er schafft! Die untergehende Sonne, die ihm grad in sein unpraktisches Fenster schaut, wird ihm zu Hilfe kommen, daß wir wenigstens etwas Farbe vor Augen haben!«
Zögernd und doch nicht ungern ging ich voran, das Zimmer zu öffnen, und sah allerdings meine ungeheuerlichen Schildereien im
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