Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Kirchhofe, welcher einem wohlgepflegten Garten glich; jedes Grab war für sich oder mit andern zusammen ein Blumenbeet, in freier Anordnung; besonders die Kindergräblein waren anmutig verteilt, bald als eine kleine Versammlung auf einer Raseninsel, bald einsam in einem lieblichen Schmollwinkel unter einem Baume, bald zwischen Gräbern der Alten, gleich Kindern, die den Müttern an der Schürze hangen. Die Wege waren mit Kies bedeckt und sorgfältig gerechet und führten ohne Scheidemauer unter die dunklen Bäume eines Lustwaldes, Ahorne, Ulmen und Eschen. Der Regen hatte nachgelassen; doch fielen noch zahlreiche Tropfen, indes im Westen ein Streifen feurigen Abendrotes lag und einen schwachen Schein auf die Leichensteine warf. Ich ließ mich unwillkürlich auf eine Gartenbank nieder, die mitten in den Gräbern stand.
Da kam ein schlankes weibliches Wesen aus dem tiefen Schatten der Bäume hervor, mit raschen Schritten, welches reiche dunkle Locken im Winde schüttelte und mit der einen Hand eine Mantille über der Brust zusammenhielt, während die andere einen leichten Regenschirm trug, der aber nicht aufgespannt war. Diese sehr anmutige Gestalt eilte gar wohlgemut zwischen den Gräbern herum und schien dieselben aufmerksam zu besichtigen, ob die Gewächse von Sturm und Regen nicht gelitten hätten. Hie und da kauerte sie nieder, warf den leichten Schirm auf den Kiesweg und band eine flatternde Spätrose frisch auf oder schnitt mit einem glänzenden Scherchen eine Aster oder dergleichen ab, worauf sie weitereilte. Erschöpft wie ich war, sah ich die schöne Erscheinung vor mir hinschweben und dachte nicht viel dabei, als der Küster wieder zum Vorschein kam.
»Hier könnt Ihr auch nicht bleiben, guter Freund!« redete er mich abermals an; »dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten, und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben.«
Ich antwortete gar nichts, sondern sah ratlos vor mich hin; denn ich konnte mich beinah nicht entschließen aufzustehen.
»Nun, hört Ihr nicht? Auf! Steht in Gottes Namen auf!« rief er etwas lauter und rüttelte mich an der Schulter, wie man einen auf der Wirtsbank Eingeschlafenen aufmuntert.
In diesem Augenblicke kam die Dame in die Nähe und hielt ihren sorglosen Gang an, um dem Handel zuzuschauen. Ihre Neugierde war von so kindlich anmutiger Gebärde und die Person so schönäugig, soviel in der Dämmerung zu sehen, von so unverhohlener natürlicher Freundlichkeit, daß ich für den Augenblick neu belebt mich erhob und mit dem Hut in der Hand vor ihr stand.
Ich schlug jedoch verlegen die Augen nieder, als sie mich in meinem durchnäßten und beschmutzten Aufzuge aufmerksam betrachtete.
Inzwischen sagte sie zu dem Kirchendiener: »Was gibt es hier mit diesem Manne?«
»Ei, gnädiges Fräulein!« antwortete der Küster, »Gott weiß, was das für ein Mensch mag sein! Er will durchaus hier einschlafen; das kann doch nicht geschehen, und wenn er ein armer Vagabund ist, so schläft er gewiß besser im Dorf in irgendeiner Scheuer!«
Die junge Dame sagte freundlich, zu mir gewendet: »Warum wollen Sie denn hier schlafen? Lieben Sie die Toten so sehr?«
»Ach, mein Fräulein«, erwiderte ich aufblickend, »ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastwirte der Erde, die keinen Müden abweisen; aber wie ich sehe, sind sie nicht viel vermögend und wird ihre Intention ausgelegt, wie es denen gefällt, die über ihren Köpfen einhergehen!«
»Das sollen Sie nicht sagen«, versetzte lächelnd das Fräulein, »daß wir hierzulande schlimmer gesinnt seien als die Toten! Wenn Sie sich nur erst ein bißchen ausweisen wollen und sagen, wie es Ihnen geht, so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden!«
»Darf ich Ihnen zum Anfang meine Schriften vorweisen?«
»Die können falsch sein! Verfahren Sie lieber mündlich!«
»Nun, ich bin guter Leute Kind und eben im Begriff, sosehr ich kann, zu laufen, woher ich gekommen bin! Leider geht es nicht unaufgehalten, wie es scheint!«
»Und woher kamen Sie denn?«
»Aus der Schweiz. Seit einigen Jahren lebte ich als Künstler in Ihrer Hauptstadt, um zu entdecken, daß ich keiner sei. So bin ich nun ohne bequeme Reisemittel auf dem Heimwege und glaubte, ohne jemandem lästig zu fallen, nur so durchlaufen zu können. Das hat der Regen verhindert; darum hoffte ich ungesehen die Nacht in dieser Kirche zuzubringen und in aller Frühe still weiterzuziehen. Wenn hier ganz in der Nähe
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