Der grüne Stern
anderen Gründen. Lösegeld, vielleicht, oder Schlimmeres.«
»Sklaverei?« fragte ich.
Sie schüttelte zögernd den Kopf. »Sie leben in gesetzloser Freiheit. Jeder ist dem anderen gleich, und sie anerkennen nur die Herrschaft ihres gewählten Häuptlings. Im Fall dieser Bande ist es diese seltsame Frau, Siona – ›die Jägerin‹, wie sie sie nennen. Oh!«
Sie erschrak. Ich blickte auf und sah in das lächelnde Gesicht der fremden jungen Frau, das ich kurz vor meiner Ohnmacht vor mir gehabt hatte. Sie stand mit gespreizten Beinen vor uns, den Kopf auf die Seite geneigt, und musterte uns mit spöttischer Neugierde, die schlanken, gebräunten Finger ihrer kräftigen kleinen Hand spielerisch um den Heft eines langen Dolchs gelegt.
»Du hast richtig geraten, Mädchen, meine Leute nennen mich die Jägerin«, sagte sie mit klarer, glockenreiner Stimme, in der ein Unterton von Belustigung mitschwang. »Und wie soll ich dich nennen, die wir aus den Armen der bluttrinkenden Blume pflückten? Die Jagdbeute?«
Ihr spöttischer Blick fiel auf mich, und ihr Gesicht zeigte etwas wie widerwillige Bewunderung, als sie ungeniert den breitschultrigen, athletischen Körper des mächtigen Chong betrachtete.
»Und du, wer bist du? Du hast die Brust und die Arme eines Ringers. Ah, ich hab’s – du bist der Beschützer, stimmts?« Sie lachte, und ihre weißen, gleichmäßigen Zähne blitzten. »Mir scheint, du nimmst es mit deinen Pflichten nicht so genau, sonst hättest du sie nicht an die Blume gelassen. Oder wolltest du deinen Schützling vielleicht loswerden?«
»Wir sind harmlose Reisende, nicht mehr«, sagte Niamh.
»Vielleicht«, antwortete Siona. »Aber es klingt merkwürdig, das müßt ihr zugeben. Unbewaffnete, einsame Reisende kommen selten in die mittleren und unteren Terrassen. Sie bleiben lieber oben, wo die begangenen Wege und die Städte sind. Dein Beschützer hat etwas von einem Waldläufer an sich, obwohl ich einen solchen Aufzug meiner Lebtag noch nicht gesehen habe. Aber du siehst wie ein verwöhntes Dämchen aus! Diese zarten Beine und weichen Hände haben es mehr mit Samtkleidern und Seidensofas zu tun gehabt als mit rauher Borke, wenn du mich fragst. Und wohin wollt ihr, unbewaffnet und unberitten, ihr – Reisenden?«
»Zur Stadt Phaolon«, murmelte Niamh. Ich hielt den Mund, denn ich fühlte, daß sie diese Situation und ihre Gefahren besser als ich beurteilen konnte.
»Phaolon? Da habt ihr eine schlechte Route gewählt, und ohne Reittiere werdet ihr den Weg kaum bewältigen. Und ich frage mich, warum ihr allein und zu Fuß nach Phaolon wollt, ohne Proviant und Waffen, mit zerrissenen Kleidern? Wißt ihr nichts von den Gefahren der Wildnis?«
»Wir sind aus der Stadt Kamadhong«, log Niamh. »Und wir sind nicht freiwillig in die Wildnis gegangen, sondern um der Verfolgung zu entgehen. Wir wollen in die Stadt Phaolon, weil es heißt, die Königin dort biete allen, die in Not zu ihr kommen, sichere Zuflucht.«
»Wie? Eine sichere Zuflucht?« sagte die Jägerin stirnrunzelnd. »Nun, hoffentlich habt ihr euch da nicht verrrechnet. Den Geächteten und Verfolgten in der Wildnis hat sie noch nie geholfen, geschweige denn Aufnahme gewährt. Die Wahrheit ist, daß ihre Ritter nach Belieben Jagd auf uns machen, als ob wir wilde Tiere wären, nicht Menschen!«
Niamh biß errötend auf ihre Unterlippe und senkte den Kopf. Aber die selbstbewußte Anführerin der Banditen schien es nicht zu bemerken oder gab der verlegenen Geste eine andere Deutung.
»Aber was soll's – deine Geschichte interessiert mich, Mädchen! Vor ›Verfolgung‹ seid ihr geflohen, sagst du. Erzähl mir mehr darüber. Warum und wie verfolgt man in Kamadhong zarte Dämchen und ihre strammen Liebhaber?«
Wieder improvisierte Niamh zungenfertig eine halbwegs plausible Geschichte zur Erklärung unserer angeblichen Flucht aus einer Stadt, von der ich noch nie gehört hatte.
»Wir sind von verschiedenem Stand«, sagte sie, »und wir … wir wollten gegen den Willen unserer Eltern heiraten. Ich bin aus einer alten Adelsfamilie, und mein Geliebter ist ein mächtiger Held aus dem Kriegerstand, dessen Liebe eines Mädchens von meinem Rang nach den Regeln der Tradition nicht würdig ist.«
Diesmal errötete ich, was die ansehnliche Artemis mit einem beinahe verstehenden Lächeln quittierte. Tatsächlich war die Geschichte, die die Prinzessin sich ausgedacht hatte, einigermaßen überzeugend. Sie erklärte hinreichend, warum wir allein und
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