Der Grüne Strahl
hing sie mit ganzem Herzen an ihrer heimat-
lichen Provinz, an ihrem Clan und ihrer Familie, mit einem
Wort, sie war mit Leib und Seele eine echte Schottin. Sie
hätte ohne Bedenken dem niedrigsten Sawney den Vortritt
vor dem größten und reichsten John Bull zugestanden, die
patriotischen Fibern ihres Herzens erzitterten wie die Sai-
ten einer Harfe, wenn von der Stimme eines Bergbewoh-
ners im Land ein nationaler Pibroch der Hochländer an ihr
Ohr schlug.
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De Maistre hat gesagt: »Es gibt in uns zwei Wesen: ›Ich
und der Andere‹.«
Dieses ›Ich‹ der Miss Campbell drückte sich aus in dem
ernsten, überlegenden Wesen, welches das Erdenleben
ebenso vom Standpunkt der Pflichten, wie der Rechte ins
Auge faßte. Der ›Andere‹ verriet sich in der romantischen,
etwas zum Aberglauben neigenden Natur, welche die wun-
derbaren Sagen liebt, die in der Heimat Fingals naturgemäß
so leicht auftauchen. Etwas verwandt mit den Lindamires,
den vielbewunderten Heroinen der Ritterromane, durch-
streifte sie die benachbarten Täler und Schluchten, um dem
›Dudelsack von Strathdearne‹ zu lauschen, wie die Hoch-
länder den Wind nennen, wenn er durch einsame Alleen
hinweht.
Die Brüder Sam und Sib liebten beide gleichermaßen je-
nes ›Ich‹ und jenes ›Andere‹ von Miss Campbell; doch wir
dürfen nicht verheimlichen, daß wenn das erstere sie durch
seine Vernünftigkeit entzückte, das andere sie zuweilen
ganz außer Fassung brachte durch unerwartete Antworten,
durch launenhafte Ahnungen und durch plötzliche Seiten-
sprünge in das Reich der Träume.
War es nicht dieser zweite Teil ihrer Natur gewesen, der
auf den Vorschlag der Brüder eine so bizarre Antwort ge-
geben hatte?
»Mich verheiraten?« würde das ›Ich‹ gesagt haben. »Mr.
Ursiclos heiraten? . . . Wollen sehen . . . davon können wir ja
später sprechen.«
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»Nicht eher, als bis ich – den Grünen Strahl gesehen
habe!« hatte die ›Andere‹ in ihr eingewendet.
Die Brüder Melvill sahen einander verblüfft an, während
Miss Campbell es sich in dem großen gotischen Lehnstuhl
in der Fensternische bequem machte.
»Was versteht sie unter dem Grünen Strahl?« fragte Bru-
der Sam.
»Und warum will sie den Grünen Strahl sehen?« ant-
wortete Bruder Sib.
Warum? Das werden wir sofort erfahren.
3. KAPITEL
Der Artikel der ›Morning Post‹
Am selben Tag, an dem sich die im vorhergehenden geschil-
derte Szene abspielte, hätten Liebhaber von Merkwürdig-
keiten folgendes in der ›Morning Post‹ lesen können:
»Haben Sie jemals die Sonne beobachtet, wenn sie unter ei-
nem Meereshorizont verschwand? – Ja, sicherlich. Sind Sie
ihr auch mit dem Blick gefolgt bis zu dem Moment, wo sie,
wenn der obere Rand ihrer Scheibe den Wasserrand berührt,
gerade gänzlich untergehen will? – Höchstwahrscheinlich.
Aber haben Sie dabei die Erscheinung bemerkt, die genau
in dem Augenblick auftritt, wo sie uns, vorausgesetzt, daß
der dunstlose Himmel eine durch nichts gestörte Fernsicht
gewährt, ihren letzten Strahl zusendet? – Nein, vielleicht
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nicht. Nun, sobald sich Ihnen eine Gelegenheit bietet – und
das ist nur selten der Fall –, bei der Sie diese Beobachtung
machen können, werden Sie wahrnehmen, daß nicht, wie
man glauben könnte, ein roter, sondern ein ›grüner‹ Strahl
die Netzhaut des Auges trifft, aber ein Strahl von ganz wun-
derbarem Grün, von einem Farbton, wie ihn kein Maler auf
seiner Palette erzeugen kann, einem Grün, das die Natur
selbst weder in der so verschiedenen Färbung der Pflanzen,
noch in der der klarsten, durchsichtigsten Meere jemals
wieder in gleicher Nuance hervorbringt. Wenn es im Para-
dies Grün gibt, dann kann es nur das hier gemeinte sein, das
ohne Zweifel das wirkliche Grün der Hoffnung darstellt!«
So lautete der Artikel der ›Morning Post‹, ein Blatt, das Miss
Campbell beim Eintritt in den Salon in der Hand hielt. Die
kurze Notiz hatte sie vollkommen eingenommen. Mit en-
thusiastischer Stimme las sie ihren beiden Onkeln auch die
angeführten wenigen Zeilen vor, die in lyrischer Form die
Schönheit jenes Grünen Strahls priesen.
Miss Campbell sagte dabei aber nicht, daß gerade die-
ser Grüne Strahl mit einer alten Legende in Verbindung
steht, deren wirklicher Sinn ihr bisher verborgen geblieben
war, eine wie so viele andere überhaupt unerklärte sagen-
hafte Überlieferung, nach welcher derjenige, der
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