Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
sondern weiter im Westen, selbst etwas nach
    — 56 —
    Norden, da die ersten Tage des August den Äquinoktien des
    Septembers noch um 6 volle Wochen vorangehen.
    Doch darauf kam es unseren Reisenden weniger an, es
    war doch ein Meereshorizont, der sich jetzt vor dem Blick
    von Miss Campbell ausbreitete. Jenseits des Zwischenraums
    zwischen den Inseln Cumbray, jenseits der großen Insel
    Bute, deren Profil durch feinen Dunst gemildert erschien,
    und jenseits der kleinen Kämme des Aisla Craig und der
    Berge von Arran flossen der Himmel und das Wasser in ei-
    ner wie mit dem Lineal gezogenen Linie zusammen.
    Völlig in Gedanken versunken und ohne ein Wort zu
    sprechen, gab sich Miss Campbell der Betrachtung des vor
    ihr liegenden Bildes hin. Auf der Kommandobrücke unbe-
    weglich stehend, warf die Sonne nur einen kurzen Schatten
    zu ihren Füßen. Sie schien die Länge des Bogens zu mes-
    sen, der jene noch von dem Punkt trennte, wo ihre Scheibe
    in die Gewässer des Archipels der Hebriden untertauchen
    mußte . . . vorausgesetzt, daß der jetzt so reine Himmel dann
    nicht von dem Nebel der Dämmerung verhüllt wurde.
    Da weckte eine Stimme die junge Träumerin aus ihren
    sinnenden Gedanken.
    »Es ist Zeit«, sagte Bruder Sib.
    »Zeit? Wozu, lieber Onkel?«
    »Es ist Zeit zu frühstücken«, erklärte Bruder Sam.
    »Nun gut, dann gehen wir zum Frühstück«, erklärte Miss
    Campbell.
    — 57 —
    5. KAPITEL
    Von einem Dampfer zum andern
    Nach der zur Hälfte warmen, zur Hälfte kalten Mahlzeit –
    im ›dining-room‹ der ›Columbia‹, war ein vortreffliches
    Frühstück nach englischer Sitte aufgetragen worden – kehr-
    ten Miss Campbell und die Brüder Melvill aufs Deck zu-
    rück.
    Helena konnte einen Aufschrei der Enttäuschung nicht
    unterdrücken, als sie ihren Platz auf dem Spardeck wieder
    eingenommen hatte.
    »Wo ist mein Horizont hin?« rief sie.
    Allerdings, ihr Horizont war nicht mehr vorhanden, son-
    dern vor nur wenigen Minuten verschwunden. Der Damp-
    fer lief jetzt, mit dem Bug nach Norden, durch die lange
    Meerenge des Kyles of Bute.
    »Das ist nicht schön, Onkel Sam!« beklagte sich das
    junge Mädchen und verzog schmollend den feingeschnit-
    tenen Mund.
    »Aber mein liebes Kind . . .«
    »Ich werde mir’s merken, Onkel Sib!«
    Die beiden Brüder wußten nicht, was sie antworten soll-
    ten, und doch konnte unmöglich jemand sie dafür verant-
    wortlich machen, daß die ›Columbia‹ nach Änderung der
    vorher eingehaltenen Richtung jetzt Richtung Nordwesten
    dampfte.
    Es gibt nämlich zwei verschieden Routen, um auf dem
    Wasserweg von Glasgow nach Oban zu gelangen.

    — 58 —
    — 59 —
    Der eine, dem die ›Columbia‹ nicht gefolgt war, ist
    der weit längere. Nach dem Anlaufen von Rothesay, dem
    Hauptort der Insel Bute, der von seinem alten, aus dem
    11. Jahrhundert stammenden Schloß beherrscht und nach
    Westen von tiefen Tälern umrahmt wird, die ihn gegen
    rauhe Winde von der Seeseite schützen, kann der Dampfer
    noch weiter den Golf von Clyde hinabgehen, das östliche
    Ufer der Insel passieren; dabei kam er in Sicht von Groß-
    und Klein-Cumbray vorüber und gelangte in gleicher Rich-
    tung bis zum südlichen Teil der Insel Arran, die fast gänz-
    lich, vom Fuß ihres Felsenuntergrunds bis zum Gipfel des
    Goatfell, der ziemlich 800 Meter über das Meer emporsteigt,
    dem Herzog von Hamilton gehört. Hierauf legte der Steu-
    ermann das Ruder um, so daß die Kompaßnadel sich wei-
    ter nach Westen dreht; man umsegelt die Insel Arran, ferner
    den langen Vorsprung der Halbinsel Cantyre, fährt an der
    Westküste hinauf, dringt durch den zwischen den Inseln Is-
    lay und Jura sich hinziehenden Sund in die Gigha-Straße
    ein und erreicht dann den weit offenen Kreisabschnitt des
    Firth of Lorn, dessen kurzer Schenkel ihn ein wenig ober-
    halb Oban abschließt.
    Wenn Miss Campbell alles in allem irgendeinen Grund
    hatte, darüber zu klagen, daß die ›Columbia‹ nicht diesen
    Kurs eingeschlagen hatte, so hatten vielleicht auch die bei-
    den Onkel Ursache, es zu bedauern. Wenn man nämlich
    längs des Küstengeländes von Islay hinfährt, wäre ihren Bli-
    cken der alte Stammsitz der MacDonalds erschienen, die,
    zu Anfang des 17. Jahrhunderts besiegt und vertrieben, den

    — 60 —
    — 61 —
    Campbells weichen mußten. Vor dem Schauplatz einer his-
    torischen Tatsache, die sie selbst so nah berührte, hätten die
    Brüder Melvill, ohne hier von Mrs. Bess und Patridge zu re-
    den, ihre

Weitere Kostenlose Bücher