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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Liebenswürdigkeit nicht verläßt.
    Hätte Miss Campbell den meisten ihrer Landsleute ge-
    ähnelt, die, sobald sie an Bord sind, eine Ecke aufsuchen
    und während der ganzen Reise kein Sterbenswörtchen spre-
    chen, dann hätte sie von den Ufern des Clyde nichts weiter
    gesehen, als was gerade, ohne den Kopf zu wenden, an ih-
    ren Augen vorüberzog. Sie aber liebte es umherzuspazieren,
    einmal nach dem Hinterdeck und dann wieder nach dem
    Vorderdeck des Dampfers zu gehen, und all die Städte, Bur-
    gen, Dörfer und Weiler zu betrachten, mit denen das Ufer-
    land in ununterbrochener Reihe übersät ist. Das hatte die
    notwendige Folge, daß die Brüder Melvill, die sie auf Schritt
    und Tritt begleiteten, ihr Rede und Antwort standen, ihre
    Bemerkungen bestätigten und ihre Beobachtungen zu wie-
    derholen suchten, zwischen Glasgow und Oban keine ru-
    hige Stunde finden konnte. Übrigens dachten sie gar nicht
    daran, sich zu beklagen, weil das ja zu ihrer Funktion als
    Leibgarde gehörte, und sie unterzogen sich dem gleichsam
    instinktiv, während sie nur gelegentlich eine frische Prise
    austauschten, die sie bei guter Laune hielt.
    Mrs. Bess und Patridge, die auf dem vordersten Teil des
    Spardecks Platz genommen hatten, plauderten vertraulich
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    über vergangene Zeiten, über verschwundene Sitten und
    über die alten, in Auflösung begriffenen Clans. Wo waren
    sie hin, die früheren Jahrhunderte, die sie noch heute be-
    klagten? Damals verschwand der Horizont des Clyde noch
    nicht hinter der kohlenstoffreichen Ausdünstung der Fabri-
    ken, seine Gestade zitterten nicht bei den schweren Don-
    nerschlägen der Dampfhämmer, seine friedlichen Gewässer
    wurden nicht durch die Aufwendung von einigen tausend
    Pferdestärken aufgewühlt!
    »Diese schöne Zeit wird auch wiederkommen, und viel-
    leicht noch eher, als man es erwartet«, sagte Mrs. Bess mit
    überzeugungsvollem Ton.
    »Ich hoffe es«, antwortete Patridge ernsthaft, »und mit
    ihr werden wir die alten Sitten unserer Vorfahren wieder
    aufleben sehen!«
    Inzwischen drängte sich der Vordersteven der ›Colum-
    bia‹ schnell zwischen den Ufern des Clyde hin, die wie ein
    bewegliches Panorama erschienen. Zur rechten Hand zeigte
    sich an der Mündung des Kelvin das Dorf Patrick mit den
    geräumigen Docks, in denen man eiserne Schiffe baut, und
    die denen von Govan auf dem anderen Ufer gegenüberlie-
    gen. Welcher Lärm von Eisenplatten und Stangen, welche
    Wolken von Rauch und Dampf stiegen da empor und ver-
    letzten Augen und Ohren des braven Patridge, wie der von
    Mrs. Bess!
    Aber all dieser Höllenspektakel einer regen Industrie,
    wie der düstere Kohlendunst nahm bald mehr und mehr
    ab. An Stelle der Zimmerplätze, der offenen Hallen, der ho-
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    hen Fabrikschornsteine und jener gigantischen Eisenge-
    rippe, die mehr den Käfigen einer Menagerie von Masto-
    dons gleichen, traten schon freundliche Wohnhäuser auf,
    unter Bäumen versteckte Cottages und Villen in angelsäch-
    sischem Stil, die auf üppig grünen Hügeln verstreut lagen.
    Das Ganze bildete eine fast lückenlose Folge von Landhäu-
    sern und Schlössern, die gleichsam eine Stadt mit der ande-
    ren verknüpften.
    Nach der altertümlichen königlichen Burg von Renfrew,
    auf dem linken Flußufer, erhoben sich zur Rechten die be-
    waldeten Hügel von Kilpatrick über dem Dorf gleichen Na-
    mens, an dem kein Ire vorüberkommen kann, ohne sich
    zu erkennen zu geben mit dem Ausruf: »Hier wurde Saint
    Patrick, der Schutzheilige Irlands, geboren!«
    Der Clyde, bisher nur ein Strom, begann sich allmäh-
    lich zum wirklichen Meeresarm auszubreiten; Mrs. Bess
    und Patridge begrüßten die Ruinen von Dunglas Castle, die
    einige alte Erinnerungen aus der Geschichte Schottlands
    wachrufen; ihre Augen wendeten sich dagegen ab von dem
    Obelisk, der einst zu Ehren Harry Bells, des Erfinders je-
    nes ersten mechanischen Fahrzeugs, dessen Räder die fried-
    lichen Wässer störten, errichtet wurde.
    Wenige Meilen weiter betrachteten die Touristen, ihren
    Bädeker oder Murray in der Hand, das Schloß Dumbarton,
    das sich auf einem Basaltfelsen über 500 Fuß hoch erhebt.
    Von den beiden Kegeln des Berggipfels führt der eine noch
    den Namen ›der Thron Wallaces‹, eines der Helden des Un-
    abhängigkeitskampfs.

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    — 53 —
    In diesem Augenblick glaubte sich ein Herr von der
    Kommandobrücke aus – ohne daß ihn jemand darum er-
    sucht hätte, aber auch ohne daß es jemand einfiel,

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