Der Grüne Strahl
das nicht
hübsch zu finden – verpflichtet, einen kleinen geschicht-
lichen Vortrag zur Belehrung seiner Reisegefährten zu im-
provisieren. Eine halbe Stunde später war es keinem Pas-
sagier der ›Columbia‹ – vorausgesetzt, daß er sich eines
gesunden Gehörorgans erfreute – mehr gestattet, nicht zu
wissen, daß höchstwahrscheinlich schon die Römer Dum-
barton befestigt hatten, daß dieser historische Felsen sich
zu Anfang des 13. Jahrhunderts in eine königliche Festung
verwandelt, daß er, gemäß einer Konvention im Unions-
vertrag, zu den vier Plätzen des Königreichs Schottland ge-
hört hatte, die nicht geschleift werden dürfen, daß Maria
Stuart im Jahr 1548 von diesem Hafen aus nach Frankreich
abreiste, wo ihre Verheiratung mit Franz II. sie zur ›Köni-
gin von einem Tag‹ machen sollte, und endlich, daß hier im
Jahr 1815 Napoleon in Haft gehalten wurde, bis das Minis-
terium Castlereagh zu dem Entschluß kam, ihn auf St. He-
lena zu internieren.
»Das ist ja ungemein lehrreich«, sagte Bruder Sam.
»Lehrreich und interessant«, antwortete Bruder Sib.
»Dieser Herr verdient unser aller Dank!«
Und wirklich, die beiden Onkel hatten kein Wort von
dem ganzen Vortrag verloren; sie zauderten auch gar nicht,
dem unerwarteten Lehrer der Geschichte ihre gerechte Bil-
ligung für seine Bemühungen zu erkennen zu geben.
In ihre eigenen Gedanken vertieft, hatte Miss Campbell
— 54 —
nichts von der historischen Lektion gehört. In diesem Au-
genblick entbehrte die Sache für sie alles Interesses. Sie rich-
tete nicht einmal den Blick nach den am rechten Stromufer
gelegenen Ruinen des Schlosses von Cardross, wo Robert
Bruce starb. Ihre Augen suchten, freilich vergeblich, einen
Meereshorizont; einen solchen konnte sie aber nicht eher
wahrnehmen, als bis die ›Columbia‹ diese Kette von Ufern,
Vorgebirgen und Hügeln hinter sich hatte, die den Golf des
Clyde umgrenzen. Übrigens glitt der Dampfer eben an dem
Städtchen Helensburgh vorüber.
Port Glasgow, die Überreste des Schlosses von Newark,
wie die Halbinsel Rosenheat konnte das junge Mädchen
aber tagtäglich von den Fenstern ihres Cottage aus sehen. Ja,
es schien ihr fast, als folge der Dampfer nur den launischen
Windungen eines Wasserlaufs in einem größeren Park.
Und warum hätten sich ihre Gedanken weiterhin verir-
ren sollen in die Hunderte von Fahrzeugen aller Art, die sich
in den Hafenbecken von Greenrock, an der Mündung des
Stroms, zusammendrängen? Welche besondere Bedeutung
hatte es für sie, daß der berühmte unsterbliche Watt in die-
ser Stadt von 40.000 Einwohnern geboren war, die man als
den industriellen und kommerziellen Vorort Glasgows zu
betrachten gewohnt ist? Warum hätten ihre Blicke, 3 Mei-
len weiter hinaus, auf dem Dorf Gourock am linken, oder
auf dem Dorf Dunoon am rechten Ufer haften sollen, an
den tiefeingeschnittenen buchtenreichen Fjorden, welche
die Küstenlinie der Grafschaft Argyle so vielfach durchbre-
chen, daß sie fast dem Schärengürtel Norwegens ähnelt?
— 55 —
Nein, Miss Campbells Blicke suchten voller Ungeduld
nur den in Ruinen liegenden Turm von Leven. Erwartete sie
da irgendeinen Burggeist zu sehen? Nicht im mindesten;
sie wollte nur die erste sein, die das Auftauchen des Pharus
von Clock meldete, der den Ausgang des Firth of Clyde be-
leuchtet.
Der Leuchtturm erschien endlich, gleich einer riesigen
Lampe, hinter einer Krümmung der Ufer.
»Clock, Onkel Sam«, rief sie, »Clock, Clock!«
»Ganz richtig, Clock«, antwortete Bruder Sam, mit der
Sicherheit und Genauigkeit eines Echos der Hochlande.
»Das Meer, Onkel Sib!«
»In der Tat das Meer«, bestätigte Onkel Sib.
»Wie herrlich das ist!« wiederholten beide Onkel.
Man hätte vermuten können, daß sie es zum ersten Mal
sehen.
Hier war kein Irrtum möglich; draußen über der Öff-
nung des Golfs breitete sich der Meereshorizont aus.
Inzwischen hatte die Sonne noch nicht die Hälfte ihres
Tageslaufs zurückgelegt. Unter dem 57. Breitengrad mußten
mindestens noch 7 Stunden vergehen, bevor sie in der Salz-
flut untertauchen konnte, 7 Stunden quälender Ungeduld
für Miss Campbell! Übrigens erstreckte sich dieser Hori-
zont mehr nach der südwestlichen Seite des Himmels, das
heißt, er bildete ein Segment, welches das Tagesgestirn nur
zur Zeit des Wintersolstitiums streifen konnte. Dort also
war der Eintritt der fraglichen Erscheinung bestimmt nicht
zu suchen,
Weitere Kostenlose Bücher