Der Grüne Strahl
der Schleusen, die schlecht
funktionierte, war ein Aufenthalt von 2 Stunden entstan-
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den – verschwanden allmählich die Weiler und Höfe der
sonst etwas traurigen Gegend, wie die ungeheuren Sümpfe
von Add, die sich an der rechten Seite des Kanals ausdeh-
nen. Die ›Linnet‹ hielt beim Dorf Ballanoch kurze Zeit an.
Hier mußte ein zweitesmal umgestiegen werden. Die
Passagiere der ›Columbia‹, jetzt die der ›Glengarry‹, dampf-
ten nun nach Nordwesten, um aus der Bucht von Crinan
herauszukommen und die Landspitze zu umschiffen, auf
der sich das alte Feudalschloß Duntroon Castle erhebt.
Seit jenem kurzen Augenblick, bei der Umseglung der
Insel Bute, war der Meereshorizont noch nicht wieder er-
schienen.
Man versteht leicht Miss Campbells Ungeduld. Auf die-
sen, nach allen Seiten eingeschlossenen Gewässern hätte
sie eher geglaubt, mitten in Schottland, in der Gegend der
Landseen, im Land Rob Roys zu sein. Überall pittoreske In-
seln mit weichen Wellenlinien und von Weiden und Lär-
chen bestanden.
Endlich überholte die ›Glengarry‹ die Nordspitze der
Insel Jura, und zwischen dieser Spitze und der kleinen In-
sel Scarba, die davon losgelöst ist, erschien die ausgedehnte
Fläche des Meeres, die sich mit dem unteren Himmelsrand
berührte.
»Nun, da sieh, liebe Helena«, sagte Bruder Sam, während
seine Hand nach Westen deutete.
»Es war ja nicht unser Fehler«, fügte Bruder Sib hinzu,
»wenn diese verzwickten Inseln, die der Gottseibeiuns ver-
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senken möge, dir den Ausblick eine Zeitlang gehemmt ha-
ben.«
»Ihr seid vollständig entlastet, liebe Onkel«, antwortete
Miss Campbell, »aber ich wünsche doch, daß so etwas nicht
wieder vorkommt.«
6. KAPITEL
Der Strudel von Corryvrekan
Es war jetzt 6 Uhr abends. Die Sonne hatte höchstens vier
Fünftel ihrer Bahn durchlaufen, und aller Wahrscheinlich-
keit nach mußte die ›Glengarry‹ Oban erreichen, bevor das
Tagesgestirn in den Wogen des Atlantischen Ozeans zur
Ruhe gegangen war. Miss Campbell konnte also glauben,
daß ihre Wünsche vielleicht noch diesen Abend in Erfül-
lung gehen würden. Der wolken- und dunstlose Himmel
schien ganz wie geschaffen zur Beobachtung der Erschei-
nung, und der Meereshorizont mußte zwischen den Inseln
Oronsay, Colonsay und Mull während dieses letzten Teils
der Fahrt immer sichtbar bleiben.
Da sollte ein unvorhergesehenes Ereignis die Fahrt des
Dampfers um einiges verzögern.
Von ihrer fixen Idee beherrscht und immer am selben
Platz ausharrend, verlor Miss Campbell niemals die Kreis-
linie aus den Augen, die sich zwischen den zwei Inseln aus-
dehnte. An der Berührungsstelle mit dem Himmel bildete
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der Widerschein ein glänzendes Dreieck, dessen letzte Farb-
töne an der Flanke der ›Glengarry‹ erstarben.
Ohne Zweifel war Miss Campbell die einzige an Bord,
deren Blicke an jenem Teil des Horizonts gefesselt blieben;
sie war auch die einzige, die bemerkte, wie heftig das Meer
zwischen der genannten Spitze und der Insel Scarba auf-
geregt schien. Gleichzeitig klang ihr von fern her das Rau-
schen mächtig durcheinander gewühlter Wellen ans Ohr,
obwohl der leichte Wind kaum einzelne Streifchen auf dem
fast schleimigen Wasser hinterließ, so ruhig war das Meer
in nächster Umgebung des Dampfers.
»Wodurch entsteht denn jene Wasserbewegung und die-
ses Geräusch?« fragte Miss Campbell, sich an ihre Onkel
wendend.
Die Brüder Melvill wären in die schönste Verlegenheit
gekommen, wenn sie ihr hätten Aufklärung geben müssen,
denn sie begriffen ebensowenig wie das junge Mädchen,
was dort in der Entfernung von etwa 3 Meilen in jener en-
gen Wasserstraße vorging.
Miss Campbell wandte sich aber nun an den Kapitän der
›Glengarry‹, der auf der Kommandobrücke auf und ab ging,
und fragte ihn, was die Ursache dieses Donnerns und Pol-
terns der Wogen sei.
»Eine einfache Erscheinung der steigenden Flut«, ant-
wortete der Kapitän. »Was Sie hier hören, ist das Geräusch
des Strudels von Corryvrekan.«
»Aber das Wetter ist ganz prächtig«, bemerkte Miss
Campbell, »und von Wind ist kaum etwas zu spüren.«
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»Jene Erscheinung hängt auch nicht im mindesten von
der Witterung ab«, antwortete der Kapitän, »sie ist die Wir-
kung der steigenden Meeresflut, die beim Austreten durch
den Jurasund keinen anderen Ausweg findet, als den zwi-
schen den Inseln Jura und Scarba. Daher erklärt es
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