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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sich, daß
    die Wogen mit ungewöhnlicher Gewalt hereinstürzen, und
    es dürfte für ein Fahrzeug von geringem Tonnengehalt sehr
    gefährlich sein, sich da hineinzuwagen.«
    Dieser Strudel von Corryvrekan, den man in jenen Ge-
    genden mit Recht fürchtet, wird als eine der merkwürdigs-
    ten Stellen im Archipel der Hebriden bezeichnet. Vielleicht
    ließe er sich vergleichen mit der wilden Strömung von Sein,
    die durch Einengung des Meeres zwischen dem Damm
    gleichen Namens und der Bai der Trépassés, an der Küste
    der Bretagne, gebildet wird, oder der Flut von Blanchart,
    durch die sich zwischen Aurigny und dem Uferland von
    Cherbourg die Gewässer des Ärmelkanals hindurchzwän-
    gen. Nach der Sage verdankt diese Stelle ihren Namen ei-
    nem skandinavischen Fürsten, dessen Schiff zur Zeit der al-
    ten Kelten dort scheiterte. In der Tat befindet sich hier eine
    höchst gefährliche Passage, in der schon viele Schiffe unter-
    gegangen sind und die hinsichtlich des Übelberüchtigtseins
    ihrer Strömungen mit dem düsteren Malstrom an der Küste
    Norwegens wetteifern kann.
    Miss Campbell verfehlte keinen Augenblick, die enor-
    men Wasserberge jenes Strudels zu betrachten, als ihre Auf-
    merksamkeit plötzlich auf einen bestimmten Punkt der
    Meerenge hingelenkt wurde. Es hatte den Anschein, als ob
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    da ein Fels mitten aus dem tosenden Wasser aufragte, wenn
    seine Masse sich nicht mit den Bewegungen der hohlen See
    gehoben und gesenkt hätte.
    »Sehen Sie, sehen Sie da, Kapitän«, rief Miss Campbell,
    »wenn das kein Felsen ist, was ist es sonst?«
    »Ja, wirklich«, antwortete der Kapitän, »das kann nur
    eine Seetrift sein, die von der Strömung dahin geführt wor-
    den ist, oder gar . . .«
    Er setzte das Fernrohr vor die Augen:
    »Ein Boot!« rief er laut.
    »Ein Boot!« wiederholte Miss Campbell.
    »Ja, ich täusche mich nicht . . . es ist ein Boot, das sich auf
    den Strudel von Corryvrekan verirrt hat!«
    Bei diesen Worten des Kapitäns waren noch mehrere Per-
    sonen auf die Kommandobrücke geeilt. Alle starrten in der
    Richtung nach dem Strudel hinaus. Daß ein kleines Fahr-
    zeug auf diese Höllenwirbel verschlagen worden war, un-
    terlag keinem Zweifel mehr. Gepackt von der Strömung der
    steigenden Flut, von der Kraft jenes todbringenden Wirbels
    angezogen, ging es offenbar seinem Untergang entgegen.
    Alle Blicke waren nach jenem Punkt des Strudels gerich-
    tet, der etwa 4 bis 5 Meilen von der ›Glengarry‹ lag.
    »Das ist wahrscheinlich nur eine losgerissene und fort-
    getriebene Schaluppe«, meinte einer der Passagiere.
    »O nein, ich erkenne darin einen Menschen«, antwortete
    ein anderer.
    »Einen Mann . . ., zwei Männer!« rief Patridge, der jetzt
    neben Miss Campbell Platz genommen hatte.

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    In der Tat, es befanden sich zwei Männer darin, die of-
    fenbar nicht mehr Herren ihres Boots waren. Die schwache,
    vom Land herwehende Brise hätte ihre Segel nicht genug
    schwellen können, um es aus dem Wogenschwall zu trei-
    ben, und die Ruder konnten sie unmöglich von dem Anzie-
    hungszentrum des Corryvrekan fernhalten.
    »Kapitän«, rief Miss Campbell, »wir können die beiden
    Unglücklichen nicht untergehen lassen! . . . Sie sind ver-
    loren, wenn man sie sich selber überläßt! . . . Sie brauchen
    Hilfe . . . unbedingt!«
    Alle an Bord hatten denselben Gedanken und erwarte-
    ten ängstlich die Entscheidung des Kapitäns.
    »Die ›Glengarry‹«, erklärte der, »kann sich nicht bis in
    die Mitte des Corryvrekan wagen, doch wenn wir uns die-
    sem Punkt nur nähern, gelingt es vielleicht, der Schaluppe
    nah genug zu kommen, um ihr Rettung zu bringen.«
    Er wandte sich dabei an die übrigen Passagiere, wie um
    von ihnen ein Zeichen der Billigung zu erhalten.
    Miss Campbell trat noch einmal auf ihn zu.
    »Es muß sein, Kapitän, es muß sein!« rief sie mit zittern-
    der Stimme. »Meine Reisegefährten verlangen dasselbe wie
    ich! Es steht das Leben von zwei Menschen auf dem Spiel,
    das Sie vielleicht retten können . . . oh, Kapitän, ich bitte Sie
    inständigst!«
    »Ja, ja!« stimmten einige der Passagiere zu, erregt durch
    die warmherzige Intervention des jungen Mädchens.
    Der Kapitän ergriff sein Fernglas, beobachtete aufmerk-
    sam den Verlauf der Strömung in der Enge und wandte sich
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    dann an den neben ihm auf der Brücke stehenden Steuer-
    mann.
    »Achtung!« rief er, »das Ruder nach Steuerbord!«
    Unter der Wirkung des Steuers drehte der

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