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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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der Radschaufeln mit dem
    Bug gerade gegen die Wellen gerichtet zu halten.
    Plötzlich glitt das Boot, nachdem es einen Augenblick
    lang auf einem haushohen Wellenkamm getanzt hatte, zur
    Seite und verschwand.
    An Bord ertönte nur ein Schrei, ein Aufschrei des Ent-
    setzens! . . .
    War das zerbrechliche Fahrzeug in den Abgrund ge-
    schleudert worden? Nein. Es stieg auf dem Rücken einer
    anderen Woge wieder empor, und eine erneute Anstrengung
    des Ruderers brachte es näher an die Flanke des Dampfers.
    »Achtung! Aufgepaßt!« riefen einige am Bug stehende
    Matrosen.
    Sie schwangen ein zu Ringen zusammengelegtes Seil
    und paßten den rechten Augenblick ab, dessen Ende hin-
    auszuschleudern.
    Da bemerkte der Kapitän eine Fläche ruhigeren Was-
    sers zwischen zwei brandenden Kämmen und erteilte den
    Befehl, der Maschine Volldampf zu geben. Die ›Glengarry‹
    drängte sich schneller vorwärts und wagte sich kühn zwi-
    schen die beiden Inseln hinein, während die Schaluppe
    noch einige Faden näher an seine Seite heranschwankte.
    Da flog das Seil hinaus, wurde erfaßt und um den Fuß
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    des Mastes geschlungen, dann erhielt die ›Glengarry‹ Ge-
    gendampf, um schneller freizukommen, während die an ih-
    rer Seite liegende Schaluppe im Schlepptau mitlief.
    In diesem Moment ließ der junge Mann die Ruder los,
    packte seinen Begleiter mit kraftvollem Arm, und unter
    Mithilfe der Matrosen des Dampfers wurde der alte See-
    mann an Bord gezogen. Von furchtbarem Wogenschlag ge-
    troffen, während beide in die Meerenge getrieben worden
    waren, war ihm jede Möglichkeit geraubt worden, die An-
    strengungen des jungen Mannes zu unterstützen, der damit
    auf seine eigenen Kräfte beschränkt war.
    Der sprang indes auf das Deck der ›Glengarry‹. Er hatte
    seine ganze Kaltblütigkeit bewahrt, sein Gesicht schien ru-
    hig und sein Auftreten bewies, daß sein moralischer Mut
    ebenso natürlichen Ursprungs war, wie der physische.
    Sofort beeilte er sich, seinem Begleiter alle mögliche
    Sorgfalt angedeihen zu lassen. Es war das der Besitzer der
    Schaluppe, den übrigens ein herzhafter Schluck Brandy
    bald wieder zu sich und halbwegs auf die Beine brachte.
    »Mr. Olivier!« sagte er halblaut.
    »Ach, mein wackerer Seemann«, antwortete der junge
    Mann, »der schreckliche Wellenschlag . . .«
    »Hat mir nichts zu Leide getan; ich hab’s gelegentlich
    schlimmer erlebt, ’s ist ja schon nichts mehr davon zu se-
    hen . . .«
    »Gott sei Dank . . . Aber meine Unbesonnenheit, immer
    noch weiter vorwärts zu drängen, wäre uns bald teuer zu
    stehen gekommen! . . . Endlich sind wir gerettet!«

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    »Mit Ihrer Hilfe, Mr. Olivier!«
    »Nein . . . mit Gottes Hilfe!«
    Der junge Mann drückte dabei den alten Seemann an die
    Brust und versuchte gar nicht, die Erregung zu verbergen,
    welche die Zuschauer dieser Szene nicht wenig rührte.
    Darauf wandte er sich an den Kapitän der ›Glengarry‹,
    eben als dieser die Kommandobrücke herabkam.
    »Herr Kapitän, ich weiß nicht, wie ich Ihnen den Liebes-
    dienst, den Sie uns erwiesen, vergelten soll . . .«
    »Sir, ich habe nichts als meine Pflicht getan, und aufrich-
    tig gesagt, haben meine Passagiere mehr Anspruch auf Ihre
    Dankbarkeit, als ich selbst.«
    Der junge Mann drückte herzlich die Hand des Kapitäns,
    zog dann den Hut und begrüßte die Passagiere mit elegan-
    ter Verbeugung.
    Unvermeidlich wären ohne Eingreifen der ›Glengarry‹ er
    und sein Begleiter, nachdem der Strudel von Corryvrekan
    sie einmal gepackt hatte, rettungslos verloren gewesen.
    Miss Campbell hatte es während dieses Austauschs von
    Höflichkeiten für angezeigt gehalten, sich etwas zurückzu-
    ziehen. Sie wollte vermeiden, daß der ihr gebührende Anteil
    an der glücklichen Durchführung dieser fast dramatischen
    Lebensrettung besonders hervorgehoben würde. So hielt sie
    sich mehr auf dem Vorderteil des Spardecks, als ihr plötz-
    lich, als ihre Phantasie aus dem Schlummer erwachte, wäh-
    rend sie sich nach Westen hinwandte, die Worte entfuhren:
    »Und der Strahl? . . . Die Sonne?«
    »Es ist keine Sonne mehr da«, sagte Bruder Sam.

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    »Und also auch kein Strahl mehr zu sehen«, fügte Bru-
    der Sib hinzu.
    Ja, jetzt war’s zu spät. Die hinter einem Horizont von
    wunderbarer Klarheit versunkene Glutscheibe hatte ihren
    letzten Grünen Strahl schon in den Weltraum entsandt.
    In dem betreffenden Augenblick beschäftigten sich Miss
    Campbells

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