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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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freilich gründlich ge-
    täuscht.
    In der Erinnerung durchlebte Miss Campbell noch ein-
    mal die Szenen beim Corryvrekan. Sie sah die mit dem Un-
    tergang bedrohte Schaluppe, die Manöver der ›Glengarry‹,
    wie sie mitten in die enge Fahrstraße hineindampfte. Tief im
    innersten Herzen empfand sie noch einmal jene Erregung,
    die sie so atemlos bedrückt hatte, als jene Unbesonnenen in
    der Senke des wirbelnden Wassers verschwanden . . . Dann
    trat ihr die gelungene Rettung vor Augen, die im rechten
    Moment geschleuderte Leine, der elegante junge Mann, als
    er das Schiffsdeck betrat – so ruhig, so lächelnd, weit weni-
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    ger erregt als sie, und wie er mit zwangloser Handbewegung
    die Passagiere des Dampfers begrüßte.
    Für einen etwas schwärmerischen Kopf war das der An-
    fang eines Romans, doch hatte es den Anschein, als ob er
    nicht über das erste Kapitel hinauskommen solle. Das an-
    gefangene Buch hatte sich unter Miss Campbells eigenen
    Händen plötzlich geschlossen. Welche Seite würde sie darin
    jemals wieder aufschlagen können, da ›ihr Held‹, ähnlich
    einem Wodan der gälischen Urzeit, nicht wieder erschienen
    war?
    Aber hatte sie denn überhaupt inmitten dieser teilnahms-
    losen aneinander vorüberstreifenden Menge, von der es auf
    dem Strand von Oban wimmelte, nach ihm gesucht? – Viel-
    leicht. – War er ihr da vor Augen gekommen? – Nein. Er
    hätte sie natürlich nicht wiedererkennen können. Wie hätte
    er sie auch an Bord der ›Glengarry‹ besonders bemerken
    sollen? – Weshalb hätte er gerade ihr nähertreten sollen?
    Wie konnte er erraten, daß er seine Rettung zum Teil nur
    ihr verdankte? Und doch war vor allen Übrigen sie es gewe-
    sen, die das in Seenot befindliche Fahrzeug bemerkt, sie die
    erste, die den Kapitän gebeten hatte, ihm zu Hilfe zu eilen.
    Und zuletzt hatte ihr das an jenem Abend wahrscheinlich
    noch ihren Grünen Strahl gekostet!
    Davon mußte man wirklich ausgehen.
    Während der 3 Tage, die der Ankunft der Familie Melvill
    in Oban folgten, hätte der Himmel einen Astronomen der
    Sternwarten von Edinburgh oder Greenwich rein zum Ver-
    zweifeln gebracht. Er zeigte sich gleichsam wattiert mit ei-
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    ner Art feinem Dunst, der jeder Beobachtung noch hinder-
    licher war als vereinzelte, scharf begrenzte Wolken. Selbst
    die mächtigsten Fernrohre oder Teleskope, das Spiegelteles-
    kop von Cambridge genauso wie das Rieseninstrument von
    Parsonstown, wären außerstande gewesen, ihn zu durch-
    dringen. Höchstens die Sonne hätte Kraft genug besessen,
    ihn mit ihren Strahlen zu durchbrechen, bei ihrem Unter-
    gang aber hüllte die Meeresgrenze sich in feine Nebel, die
    den Westhimmel mit purpurnen Farbtönen übergossen.
    Der Grüne Strahl konnte dabei freilich unmöglich auf
    die Augen eines Beobachters treffen.
    Von etwas phantastischer Einbildung erfüllt, vermengte
    Miss Campbell in ihren Träumereien den Schiffbrüchigen
    aus dem Strudel von Corryvrekan und den Grünen Strahl
    in ein und derselben Vorstellung. Sicherlich kam der eine
    so wenig wie der andere zur Erscheinung. Wenn die Dünste
    diesen verdeckten, so verbarg das Inkognito ihr jenen.
    Machten die Brüder Melvill den Versuch, ihre Nichte
    zur Geduld zu ermahnen, dann kamen sie freilich schlecht
    an. Miss Campbell genierte sich gar nicht, sie für die hart-
    näckigen atmosphärischen Störungen verantwortlich zu
    machen; sie selbst wieder hielten sich an das vortreffliche
    Aneroidbarometer, das sie vorsorglich aus Helensburgh
    mitgenommen hatten und dessen Zeiger dabei verharrte,
    sich nicht vorwärts zu bewegen. Sie hätten wirklich ihre ge-
    liebte Tabaksdose drum gegeben, einmal einen Sonnenun-
    tergang bei wolken- und nebelfreiem Himmel zu erlangen!
    Der gelehrte Ursiclos beging eines Tages, bezugneh-
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    mend auf die Dunstmassen, die den Himmel bedeckten, gar
    die Ungeschicklichkeit, deren Entstehung ganz natürlich
    zu finden. Von dieser Erkenntnis bis zur Eröffnung eines
    ambulatorischen Kurses über Physik war bei ihm selbst-
    verständlich nur ein Schritt, den er in Gegenwart von Miss
    Campbell denn auch tat. Er sprach dabei von den Wolken
    im allgemeinen, von ihrer abwärts steigenden Bewegung,
    die sie mit Erniedrigung der Lufttemperatur dem Horizont
    zuführt, von der Umbildung der Dünste in Bläschenform,
    von ihrer wissenschaftlichen Einteilung in Nimbus, Stratus,
    Kumulus, Zirrus – wir brauchen wohl nicht zu versichern,
    daß er in dem Genuß

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