Der Grüne Strahl
erkennen zu geben.
Das zauberhafte junge Mädchen wußte ihm Dank für
seine Zurückhaltung, denn, wenn sie sich auch hinfort in-
different benahm, so empfing sie ihn doch weniger kühl als
bei der ersten Begegnung.
Inzwischen hatte sich der Zustand des Himmels ziem-
lich verändert. Wenn das Wetter auch noch schön blieb, so
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verdeckten doch ständig einzelne Wolken, die auch die Mit-
tagshitze nicht aufzulösen vermochte, den Horizont beim
Auf- und Untergang der Sonne. Es wäre demnach ganz
nutzlos gewesen, einen Beobachtungspunkt auf der Insel
Seil aufzusuchen; das mußte vergebliche Mühe sein, und so
galt es denn, sich in Geduld zu fassen.
Während dieser langen Tage schweifte Miss Campbell, die
ihre Onkel gern der Gesellschaft des Verlobten ihrer Wahl
überließ, manchmal in Begleitung von Mrs. Bess, meist aber
allein, auf dem Vorland der Bai umher.
Sie mied gern jene Welt von Müßiggängern, die, fast
überall in völlig gleichem Charakter, die flottierende Bevöl-
kerung der Kurorte bildet; Familien, deren einzige Beschäf-
tigung darin besteht, das Meer sinken und steigen zu sehen,
während die kleinen Mädchen und Knaben mit echt bri-
tannischer Ungebundenheit der Bewegung über den flüch-
tigen Sand kollern; schon alte, ernste und phlegmatische
Herren unter häufig gar zu rudimentärem Badekostüm, de-
ren Hauptgeschäft darin besteht, sich 6 Minuten lang in das
salzige Wasser zu tauchen; dazu Herren und Damen von
größter ›respectability‹, die regungslos und steif auf den
grünen Holzbänken mit roten Kissen sitzen, und einige Sei-
ten eines kartonierten, illustrierten und meist überaus eng
gedruckten Buchs durchblättern, wie man sie als Erzeug-
nisse der englischen Typographie leider gar zu oft findet;
ferner einzelne Touristen mit dem Fernglas am Riemen,
den Schlapphut auf der Stirn, lange Gamaschen an den Bei-
nen und den Sonnenschirm unter dem Arm, die gestern an-
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gekommen sind und morgen wieder weiterziehen werden;
endlich, inmitten jener Menge, Händler mit ausschließ-
lich tragbarer und beweglicher Handelsware, Elektriker, die
das geheimnisvolle Fluidum für 2 Pence jedem verkaufen,
der zum Probieren Lust verspürt; Künstler, deren mecha-
nisches Piano auf Rädern Motive aus einheimischen Lie-
dern mit verunstalteten französischen Chansonnettes ver-
mischt; Fotografen unter freiem Himmel, die von zufällig
zusammensitzenden Familien sofort Dutzende von Augen-
blicksbildern liefern; Händler im schwarzen Überzieher
und Händlerinnen im blumengeschmückten Hut, ihre klei-
nen Karren vor sich herschiebend, in denen sie die schöns-
ten Früchte aus aller Welt feilbieten; ›Minstrels‹ endlich,
die, ganz erstaunliche Gesichter schneidend, volkstümliche
Szenen unter schonungsloser Travestierung abspielen und
dazu herzbrechende Gassenhauer in unzähligen Couplets
singen, inmitten eines Zuhörerkreises von Kindern, welche
die Refrains mit heiligem Ernst nachsingen.
Für Miss Campbell hatte dieses alltägliche Treiben eines
Kurorts nicht mehr den Reiz der Neuheit. Sie zog es vor,
diesem Gewimmel von Menschen zu entfliehen, die einan-
der ebenso fremd zu sein schienen, als wären sie aus allen
vier Ecken Europas zusammengeströmt.
Wenn ihre, über das Ausbleiben des jungen Mädchens
besorgten Onkel sie suchen wollten, mußten sie sich im-
mer zu dem einsamen Strand an irgendeiner vorspringen-
den Spitze der Bai begeben, um sie zu finden.
Da saß Miss Campbell, gleich der nachsinnenden Minna
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aus dem ›Piraten‹, den Ellenbogen auf ein Felsstück gestützt,
den Kopf in der einen Hand ruhend, während sie mit der
anderen wilden Fenchel enthülste, der hier zwischen den
Steinen wuchs. Ihr zerstreuter Blick wandte sich von einem
›Stack‹, dessen Felsengipfel senkrecht emporragte, nach ir-
gendeiner dunklen Höhle, einer jener ›Helyers‹, wie man sie
in Schottland nannt, die von dem Brausen des hereinfluten-
den Meeres widerhallen.
In der Ferne saßen in geraden Linien Seeraben unbe-
weglich, gleich hieratischen Vögeln, und sie folgte ihnen
weithin mit den Blicken, wenn diese, aus ihrer Ruhe gestört,
mit schwerem Flügelschlag dicht über die Brandungswellen
hinstreiften. Woran dachte wohl das junge Mädchen?
Aristobulos Ursiclos hätte unzweifelhaft Anmaßung und
ihr Onkelpaar Naivität genug besessen, zu glauben, daß sie
an ihn denke; sie hätten sich damit
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