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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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erkennen zu geben.
    Das zauberhafte junge Mädchen wußte ihm Dank für
    seine Zurückhaltung, denn, wenn sie sich auch hinfort in-
    different benahm, so empfing sie ihn doch weniger kühl als
    bei der ersten Begegnung.
    Inzwischen hatte sich der Zustand des Himmels ziem-
    lich verändert. Wenn das Wetter auch noch schön blieb, so
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    verdeckten doch ständig einzelne Wolken, die auch die Mit-
    tagshitze nicht aufzulösen vermochte, den Horizont beim
    Auf- und Untergang der Sonne. Es wäre demnach ganz
    nutzlos gewesen, einen Beobachtungspunkt auf der Insel
    Seil aufzusuchen; das mußte vergebliche Mühe sein, und so
    galt es denn, sich in Geduld zu fassen.
    Während dieser langen Tage schweifte Miss Campbell, die
    ihre Onkel gern der Gesellschaft des Verlobten ihrer Wahl
    überließ, manchmal in Begleitung von Mrs. Bess, meist aber
    allein, auf dem Vorland der Bai umher.
    Sie mied gern jene Welt von Müßiggängern, die, fast
    überall in völlig gleichem Charakter, die flottierende Bevöl-
    kerung der Kurorte bildet; Familien, deren einzige Beschäf-
    tigung darin besteht, das Meer sinken und steigen zu sehen,
    während die kleinen Mädchen und Knaben mit echt bri-
    tannischer Ungebundenheit der Bewegung über den flüch-
    tigen Sand kollern; schon alte, ernste und phlegmatische
    Herren unter häufig gar zu rudimentärem Badekostüm, de-
    ren Hauptgeschäft darin besteht, sich 6 Minuten lang in das
    salzige Wasser zu tauchen; dazu Herren und Damen von
    größter ›respectability‹, die regungslos und steif auf den
    grünen Holzbänken mit roten Kissen sitzen, und einige Sei-
    ten eines kartonierten, illustrierten und meist überaus eng
    gedruckten Buchs durchblättern, wie man sie als Erzeug-
    nisse der englischen Typographie leider gar zu oft findet;
    ferner einzelne Touristen mit dem Fernglas am Riemen,
    den Schlapphut auf der Stirn, lange Gamaschen an den Bei-
    nen und den Sonnenschirm unter dem Arm, die gestern an-

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    gekommen sind und morgen wieder weiterziehen werden;
    endlich, inmitten jener Menge, Händler mit ausschließ-
    lich tragbarer und beweglicher Handelsware, Elektriker, die
    das geheimnisvolle Fluidum für 2 Pence jedem verkaufen,
    der zum Probieren Lust verspürt; Künstler, deren mecha-
    nisches Piano auf Rädern Motive aus einheimischen Lie-
    dern mit verunstalteten französischen Chansonnettes ver-
    mischt; Fotografen unter freiem Himmel, die von zufällig
    zusammensitzenden Familien sofort Dutzende von Augen-
    blicksbildern liefern; Händler im schwarzen Überzieher
    und Händlerinnen im blumengeschmückten Hut, ihre klei-
    nen Karren vor sich herschiebend, in denen sie die schöns-
    ten Früchte aus aller Welt feilbieten; ›Minstrels‹ endlich,
    die, ganz erstaunliche Gesichter schneidend, volkstümliche
    Szenen unter schonungsloser Travestierung abspielen und
    dazu herzbrechende Gassenhauer in unzähligen Couplets
    singen, inmitten eines Zuhörerkreises von Kindern, welche
    die Refrains mit heiligem Ernst nachsingen.
    Für Miss Campbell hatte dieses alltägliche Treiben eines
    Kurorts nicht mehr den Reiz der Neuheit. Sie zog es vor,
    diesem Gewimmel von Menschen zu entfliehen, die einan-
    der ebenso fremd zu sein schienen, als wären sie aus allen
    vier Ecken Europas zusammengeströmt.
    Wenn ihre, über das Ausbleiben des jungen Mädchens
    besorgten Onkel sie suchen wollten, mußten sie sich im-
    mer zu dem einsamen Strand an irgendeiner vorspringen-
    den Spitze der Bai begeben, um sie zu finden.
    Da saß Miss Campbell, gleich der nachsinnenden Minna
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    aus dem ›Piraten‹, den Ellenbogen auf ein Felsstück gestützt,
    den Kopf in der einen Hand ruhend, während sie mit der
    anderen wilden Fenchel enthülste, der hier zwischen den
    Steinen wuchs. Ihr zerstreuter Blick wandte sich von einem
    ›Stack‹, dessen Felsengipfel senkrecht emporragte, nach ir-
    gendeiner dunklen Höhle, einer jener ›Helyers‹, wie man sie
    in Schottland nannt, die von dem Brausen des hereinfluten-
    den Meeres widerhallen.
    In der Ferne saßen in geraden Linien Seeraben unbe-
    weglich, gleich hieratischen Vögeln, und sie folgte ihnen
    weithin mit den Blicken, wenn diese, aus ihrer Ruhe gestört,
    mit schwerem Flügelschlag dicht über die Brandungswellen
    hinstreiften. Woran dachte wohl das junge Mädchen?
    Aristobulos Ursiclos hätte unzweifelhaft Anmaßung und
    ihr Onkelpaar Naivität genug besessen, zu glauben, daß sie
    an ihn denke; sie hätten sich damit

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