Der Grüne Strahl
offene Meer nicht ebenfalls da zu finden sei,
wo so viele Kurgäste zusammenströmten? Hier war freilich
der einzige Punkt der ganzen Küste, wo, Dank diesen un-
glückseligen Hebriden, die Kreislinie des Wassers nicht den
Himmel begrenzte!
»Nun gut«, sagte Miss Campbell in einem Ton, dem sie
eine möglichst strenge Färbung verlieh, »es wird also nichts
anderes übrigbleiben, als einen anderen Küstenpunkt auf-
zusuchen, selbst auf den Verlust des unschätzbaren Vorteils
hin, mit Mr. Aristobulos Ursiclos zusammen zu sein!«
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Die Brüder Melvill neigten instinktiv den Kopf, ohne auf
diese kleine Bosheit zu antworten.
»Wir werden sofort das Nötige besorgen«, fuhr Miss
Campbell fort, »um noch heute abzureisen.«
»Ja, ja, wir wollen abreisen!« stimmten die beiden Onkel
zu, die ihre Unbesonnenheit nur durch einen Akt passiven
Gehorsams wettmachen zu können glaubten.
Sogleich erklang es wieder nach alter Gewohnheit:
»Bet!«
»Beth!«
»Bess!«
»Betsey!«
»Betty!«
Mrs. Bess erschien, gefolgt von Patridge. Beide wurden
von dem neuen Beschluß informiert, und da sie von jeher
wußten, daß ihre junge Herrin immer recht haben mußte,
grübelten sie gar nicht über den Grund dieser eiligen Ab-
reise.
Hier hatte man jedoch buchstäblich die Rechnung ohne
den Wirt, das heißt ohne Master MacFyne, den Besitzer des
Caledonian-Hotels, gemacht.
Man müßte diese schätzenswerten Unternehmer, selbst
in dem so gastlichen Schottland, sehr schlecht kennen, um
zu glauben, daß sie eine aus drei Personen und zwei Dienst-
leuten bestehende Familie so ruhig wegziehen ließen, ohne
alles Mögliche anzustellen, sie zurückzuhalten. Und das traf
denn auch in unserem Fall ein.
Kaum hatte Master MacFyne von dem für ihn bedeu-
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tungsvollen Vorhaben erfahren, als er mit der Erklärung zur
Hand war, daß sich ja alles zur allgemeinen Befriedigung
arrangieren ließe, ohne dabei von der persönlichen Befrie-
digung zu sprechen, die er darüber empfand, so anständige
Gäste so lange wie möglich zu behalten.
Was wünschte Miss Campbell und was verlangten des-
halb die Herren Melvill?
Eine unbeschränkte Aussicht über das Meer, wenigstens
nach Westen und Nordwesten? Dieser Wunsch war ja leicht
genug zu erfüllen, zumal es sich im Grunde doch nur darum
handelte, den Untergang der Sonne beobachten zu können.
Von dem Gestade von Oban konnte man ihn nicht sehen?
Zugegeben. Wäre das von der Insel Kerrera aus möglich ge-
wesen? Auch nicht. Die vorgelagerte große Insel Mull ge-
stattete höchstens einen Blick auf einen sehr beschränkten
Teil des Atlantischen Ozeans in Richtung Südwesten. Wenn
man hingegen an der Küste hinabging, gelangte man zu
der kleinen Insel Seil, deren nördlichster Punkt durch eine
Brücke mit dem Festland Schottlands verbunden ist. Hier
konnte nichts den Ausblick nach Westen über zwei Fünftel
des Kompasses behindern.
Sich nach dieser Insel zu begeben, dazu bedurfte es nur
eines Spazierwegs von 4 bis 5 Meilen, nicht mehr, und bei
passendem Wetter konnte ein vorzüglicher, mit schnellfüßi-
gen Pferden bespannter Wagen Miss Campbell und ihre Be-
gleitung bequem binnen 1 1/2 Stunde dahin bringen.
Zur Bekräftigung seiner Aussage verwies der redege-
wandte Hotelier noch auf die im Vestibül des Hauses aus-
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hängende, in großem Maßstab entworfene Karte der Umge-
bung. Miss Campbell konnte sich also unschwer überzeugen,
daß Master MacFyne die Wahrheit sagte. Wirklich verbrei-
tete sich seewärts der Insel Seil ein breiter, mindestens ein
Drittel des Horizonts umfassender Sektor, den die Sonne
während mehrerer Wochen vor und nach der Tagundnacht-
gleiche durchzog.
Die Sache regelte sich also zur größten Zufriedenheit von
Master MacFyne, und zur größten Bequemlichkeit der Brü-
der Melvill. Miss Campbell sicherte ihnen edelmütig volle
Verzeihung zu und unterließ sogar jede verletzende Anspie-
lung auf die Anwesenheit von Aristobulos Ursiclos.
»Aber«, sagte Bruder Sam, »es ist doch merkwürdig, daß
gerade Oban keinen Meereshorizont hat!«
»Ja, die Natur hat eben ihre Launen!« antwortete Bru-
der Sib.
Aristobulos Ursiclos war ohne Zweifel sehr glücklich,
daß Miss Campbell nun nicht fortging, um einen für ihre
meteorologische Beobachtung geeigneteren Ort aufzusu-
chen; er war aber so vertieft in seine wissenschaftlichen
Probleme, daß er ganz vergaß, seine Befriedigung darüber
zu
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