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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sollte.
    Ganz in Gedanken verloren, hielt sich Miss Campbell
    immer noch ein wenig vor den anderen. Einzelne Raub-
    vögel, Adler oder Falken, belebten allein diese Einöde und
    zogen große Kreise über den ›dens‹, das ist eine Art gleich
    Trichtern in felsiger Wand ausgehöhlter Täler.
    Nach astronomischer Berechnung mußte die Sonne zu
    dieser Jahreszeit und unter dieser Breite um 7 Uhr 54 ge-
    nau in der Richtung links vom Vorgebirge Ardanalish un-
    tergehen.
    Einige Wochen später wäre es unmöglich gewesen, ihr
    Versinken hinter der Kreislinie des Meeres zu beobachten,
    denn dann hätte die Insel Colonsay sie dem Blick entzogen.
    An eben diesem Abend waren also Zeit und Ort für die Be-
    obachtung jener Erscheinung ganz passend gewählt.
    Jetzt bewegte sich die Sonne schon in sehr schräger Rich-
    tung über den vollkommen wolkenlosen Himmel.
    Kaum vermochten die Augen den Glanz ihrer in flam-
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    mendes Rot übergegangenen Scheibe auszuhalten, den das
    Wasser in langen glitzernden Lichtstreifen widerspiegelte.
    Und doch hätten sich weder Miss Campbell noch ihre
    Oheime dazu vermögen können, die Lider nur für einen
    Augenblick zu schließen – nein, jetzt in der entscheidenden
    Minute unmöglich!
    Doch bevor das Tagesgestirn den Horizont mit seinem
    unteren Rand berührte, stieß Miss Campbell einen Schrei
    der Enttäuschung aus. Eben tauchte ein feines Wölkchen
    auf, dünn wie ein Federstrich, aber lang wie der Wimpel ei-
    nes Kriegsschiffs. Es trennte die Sonnenscheibe in zwei un-
    gleiche Teile und schien mit ihr zum Meer herabzusinken.
    Ein Windhauch, wenngleich ein noch so leichter, hätte
    reichen müssen, es zu vertreiben, zu zerstreuen! . . . Der
    Windhauch kam nicht!
    Und als von dem Sonnenrund nur noch ein ganz kleiner
    Kreisabschnitt sichtbar war, da verdeckte diese Dunstwolke
    die Linie zwischen Himmel und Wasser.
    Der sich in diesem zarten Wölkchen verlierende letzte
    Grüne Strahl hatte das Auge der Beobachter nicht erreichen
    können.
    — 111 —
    9. KAPITEL
    Plaudereien von Mrs. Bess
    Die Rückkehr nach Oban ging schweigend vonstatten. Miss
    Campbell sprach nicht, die Brüder Melvill wagten nicht
    zu sprechen, obgleich es doch gewiß nicht ihr Fehler war,
    daß jener so unzeitige Rauch oder Dampf gerade eine sol-
    che Stelle eingenommen hatte, in der er den letzten Strahl
    der Sonne abfing. Übrigens brauchte man ja deshalb nicht
    zu verzweifeln. Die schöne Jahreszeit währte voraussicht-
    lich mindestens noch 6 Wochen. Es hätte doch ein ganz be-
    sonderer Unstern über ihnen walten müssen, wenn sich
    während der Dauer des Frühherbstes kein einziger schöner
    Abend mit einem dunstfreien Horizont darbieten sollte.
    Auf jeden Fall war ihnen heute ein wunderbar schöner
    Abend verlorengegangen, wie ihn das Barometer – wenigs-
    tens für die nächste Zeit – kaum wieder zu versprechen
    schien, denn im Lauf der Nacht kehrte die launenhafte
    Nadel des höchst empfindlichen Instruments langsam auf
    ›Veränderlich‹ zurück. Was für alle Welt noch als schönes
    Wetter gelten konnte, das war es doch keineswegs in den
    Augen von Miss Campbell.
    Am folgenden Tag, dem 8. August, durchbrachen die
    Sonnenstrahlen nur zeitweise die warmen Dunstmassen am
    Himmelsgewölbe. Die gewöhnliche Mittagsbrise erlangte
    nicht die Stärke, sie zu zerstreuen. Gegen Abend glänzte
    der Himmel im lebhaftesten Farbenspiel. Ineinander flie-
    ßende Farbtöne aller Art, vom Chromgelb bis zum dunklen
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    Ultramarin, verliehen dem Horizont das blendende Aus-
    sehen der Palette eines Malers. Unter dem Flockenschleier
    feiner Wölkchen färbte die untergehende Sonne Himmel
    und Land mit allen Strahlen des Spektrums, außer demje-
    nigen, den die phantastische und etwas abergläubische Miss
    Campbell zu sehen verlangte.
    Ganz ähnlich verhielt es sich am nächsten und am über-
    nächsten Tag. Der Wagen blieb also unbenutzt in der Re-
    mise des Hotels. Wozu hätte es gedient, zum Zweck einer
    Beobachtung auszufahren, die der Zustand des Himmels
    von vornherein vereiteln mußte? Die Anhöhen der Insel
    Seil konnten ja keine günstigeren Bedingungen bieten, als
    der Strand von Oban, und es war immer besser, sich einer
    Enttäuschung gar nicht erst auszusetzen.
    Ohne gerade mürrischer zu sein, als es die Umstände
    rechtfertigten, begnügte sich Miss Campbell, bei einbre-
    chender Dunkelheit ihr Zimmer aufzusuchen, und höchs-
    tens ein wenig mit der nicht besonders höflichen Sonne

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