Der Grüne Strahl
sollte.
Ganz in Gedanken verloren, hielt sich Miss Campbell
immer noch ein wenig vor den anderen. Einzelne Raub-
vögel, Adler oder Falken, belebten allein diese Einöde und
zogen große Kreise über den ›dens‹, das ist eine Art gleich
Trichtern in felsiger Wand ausgehöhlter Täler.
Nach astronomischer Berechnung mußte die Sonne zu
dieser Jahreszeit und unter dieser Breite um 7 Uhr 54 ge-
nau in der Richtung links vom Vorgebirge Ardanalish un-
tergehen.
Einige Wochen später wäre es unmöglich gewesen, ihr
Versinken hinter der Kreislinie des Meeres zu beobachten,
denn dann hätte die Insel Colonsay sie dem Blick entzogen.
An eben diesem Abend waren also Zeit und Ort für die Be-
obachtung jener Erscheinung ganz passend gewählt.
Jetzt bewegte sich die Sonne schon in sehr schräger Rich-
tung über den vollkommen wolkenlosen Himmel.
Kaum vermochten die Augen den Glanz ihrer in flam-
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mendes Rot übergegangenen Scheibe auszuhalten, den das
Wasser in langen glitzernden Lichtstreifen widerspiegelte.
Und doch hätten sich weder Miss Campbell noch ihre
Oheime dazu vermögen können, die Lider nur für einen
Augenblick zu schließen – nein, jetzt in der entscheidenden
Minute unmöglich!
Doch bevor das Tagesgestirn den Horizont mit seinem
unteren Rand berührte, stieß Miss Campbell einen Schrei
der Enttäuschung aus. Eben tauchte ein feines Wölkchen
auf, dünn wie ein Federstrich, aber lang wie der Wimpel ei-
nes Kriegsschiffs. Es trennte die Sonnenscheibe in zwei un-
gleiche Teile und schien mit ihr zum Meer herabzusinken.
Ein Windhauch, wenngleich ein noch so leichter, hätte
reichen müssen, es zu vertreiben, zu zerstreuen! . . . Der
Windhauch kam nicht!
Und als von dem Sonnenrund nur noch ein ganz kleiner
Kreisabschnitt sichtbar war, da verdeckte diese Dunstwolke
die Linie zwischen Himmel und Wasser.
Der sich in diesem zarten Wölkchen verlierende letzte
Grüne Strahl hatte das Auge der Beobachter nicht erreichen
können.
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9. KAPITEL
Plaudereien von Mrs. Bess
Die Rückkehr nach Oban ging schweigend vonstatten. Miss
Campbell sprach nicht, die Brüder Melvill wagten nicht
zu sprechen, obgleich es doch gewiß nicht ihr Fehler war,
daß jener so unzeitige Rauch oder Dampf gerade eine sol-
che Stelle eingenommen hatte, in der er den letzten Strahl
der Sonne abfing. Übrigens brauchte man ja deshalb nicht
zu verzweifeln. Die schöne Jahreszeit währte voraussicht-
lich mindestens noch 6 Wochen. Es hätte doch ein ganz be-
sonderer Unstern über ihnen walten müssen, wenn sich
während der Dauer des Frühherbstes kein einziger schöner
Abend mit einem dunstfreien Horizont darbieten sollte.
Auf jeden Fall war ihnen heute ein wunderbar schöner
Abend verlorengegangen, wie ihn das Barometer – wenigs-
tens für die nächste Zeit – kaum wieder zu versprechen
schien, denn im Lauf der Nacht kehrte die launenhafte
Nadel des höchst empfindlichen Instruments langsam auf
›Veränderlich‹ zurück. Was für alle Welt noch als schönes
Wetter gelten konnte, das war es doch keineswegs in den
Augen von Miss Campbell.
Am folgenden Tag, dem 8. August, durchbrachen die
Sonnenstrahlen nur zeitweise die warmen Dunstmassen am
Himmelsgewölbe. Die gewöhnliche Mittagsbrise erlangte
nicht die Stärke, sie zu zerstreuen. Gegen Abend glänzte
der Himmel im lebhaftesten Farbenspiel. Ineinander flie-
ßende Farbtöne aller Art, vom Chromgelb bis zum dunklen
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Ultramarin, verliehen dem Horizont das blendende Aus-
sehen der Palette eines Malers. Unter dem Flockenschleier
feiner Wölkchen färbte die untergehende Sonne Himmel
und Land mit allen Strahlen des Spektrums, außer demje-
nigen, den die phantastische und etwas abergläubische Miss
Campbell zu sehen verlangte.
Ganz ähnlich verhielt es sich am nächsten und am über-
nächsten Tag. Der Wagen blieb also unbenutzt in der Re-
mise des Hotels. Wozu hätte es gedient, zum Zweck einer
Beobachtung auszufahren, die der Zustand des Himmels
von vornherein vereiteln mußte? Die Anhöhen der Insel
Seil konnten ja keine günstigeren Bedingungen bieten, als
der Strand von Oban, und es war immer besser, sich einer
Enttäuschung gar nicht erst auszusetzen.
Ohne gerade mürrischer zu sein, als es die Umstände
rechtfertigten, begnügte sich Miss Campbell, bei einbre-
chender Dunkelheit ihr Zimmer aufzusuchen, und höchs-
tens ein wenig mit der nicht besonders höflichen Sonne
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