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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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schwelgte, seine Weisheit an die Frau
    zu bringen.
    Das lag so klar auf der Hand, daß die Brüder Melvill gar
    nicht wußten, welche Haltung sie dieser improvisierten Be-
    lehrung gegenüber einnehmen sollten.
    Miss Campbell selbst ›schnitt‹ – um in modernem Dan-
    dyjargon zu sprechen – den jungen Gelehrten glattweg; erst
    gab sie sich den Anschein, als sähe sie in einer ganz andern
    Richtung, um ihn nicht zu hören; dann heftete sie die Augen
    unverwandt auf das Schloß von Dunolly, um ihn scheinbar
    gar nicht zu bemerken; endlich blickte sie auf die Spitzen ih-
    rer zierlichen Badeschuhe nieder – was als nicht mißzudeu-
    tendes Zeichen von Indifferenz gilt, als der Beweis vollkom-
    mensten Mangels an Beachtung, den eine junge Schottin,
    ebenso bezüglich der Worte eines Sprechenden wie seiner
    eigenen Persönlichkeit, nur immer beizubringen vermag.
    Aristobulos Ursiclos, der gewöhnlich nichts sah und
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    hörte als sich selbst, der stets nur wie für sich sprach und
    dozierte, bemerkte davon freilich nichts oder hatte wenigs-
    tens den Anschein, nichts zu bemerken.
    So vergingen der 3., 4., 5. und 6. August; am letzteren
    Tag aber stieg zur großen Freude der Brüder Melvill das Ba-
    rometer um einige Linien über ›Veränderlich‹.
    Der folgende Tag brach unter den günstigsten Aussich-
    ten an. Um 10 Uhr morgens leuchtete die Sonne in blen-
    dendem Glanz und der Himmel breitete über dem Meer
    seinen Azur in herrlicher Klarheit aus.
    Miss Campbell konnte sich diese günstige Gelegenheit
    nicht entgehen lassen. Im Schuppen des Caledonian-Hotels
    wurde stets ein Wagen zu ihrer Verfügung gehalten. Jetzt
    oder nie war der Augenblick gekommen, davon Gebrauch
    zu machen.
    Um 5 Uhr abends nahmen also Miss Campbell und die
    Brüder Melvill in der Kalesche Platz, die ein mit der Leitung
    eines Viergespanns wohlvertrauter Kutscher führte. Pat-
    ridge nahm den Dienersitz am Rückteil ein, und die durch
    eine Peitsche mit sehr langer Schnur angetriebenen Pferde
    jagten auf der Landstraße von Oban nach Glachan dahin.
    Aristobulos Ursiclos hatte, zu seinem größten Leidwe-
    sen – wohl kaum auch zu dem von Miss Campbell – wegen
    dringlicher Beschäftigung mit einer wissenschaftlichen Ab-
    handlung, nicht mit von der Partie sein können.
    Der Ausflug war in jeder Hinsicht höchst lohnend. Der
    Wagen folgte der Straße längs der Küste und der Meerenge,
    welche die Insel Kerrera vom schottischen Festland trennt.
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    Die Insel, vulkanischen Ursprungs, bot einen herrlichen
    Anblick, litt aber in den Augen von Miss Campbell an dem
    einen unverzeihlichen Fehler, ihr die freie Aussicht über
    das Meer zu rauben. Da unter diesen Verhältnissen jedoch
    nur 4 1/2 Meilen zurückzulegen waren, verfehlte sie doch
    nicht ganz ihre Bewunderung ihres harmonischen Profils,
    dessen scharfe Linien sich von leuchtendem Hintergrund,
    geschmückt mit den, die Spitze der mittelsten Bodener-
    hebung bedeckenden Ruinen eines Dänenschlosses, desto
    deutlicher abhoben.
    »Das war einstmals der Stammsitz der MacDouglas von
    Lorne«, bemerkte Bruder Sam.
    »Und für unsere Familie«, fügte Bruder Sib hinzu, »be-
    sitzt jenes Schloß ein besonderes geschichtliches Interesse,
    weil es durch die Campbells zerstört wurde, die es nach
    schonungslosem Massaker aller Bewohner in Brand steck-
    ten!«
    Diese Großtat schien ganz besonders den Beifall Pat-
    ridges zu finden, der zur Ehre des Clans leise in die Hände
    klatschte.
    Als man an der Insel Kerrera vorüber war, lenkte der
    Wagen in eine schmale Straße mit leichten Bodenwellen
    ein, die zum Dorf Glachan führte. Dort rollte er über den
    künstlichen Isthmus, der in Form einer Brücke eine schmale
    Wasserstraße überspannt und die Insel Seil mit dem Fest-
    land verbindet. Nach Zurücklassung des Wagens in einer
    romantischen Talschlucht erklomm die kleine Gesellschaft
    den ziemlich steilen Abhang eines Hügels und nahm dann
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    auf hervorspringendem Felsenrand, ganz nah beim Ufer,
    platz.
    Diesmal konnte nichts die nach Westen gerichteten Bli-
    cke der Beobachter behindern, weder das Eiland Easdale,
    noch die kleine Insel Inish, die beide aussehen, als wären sie
    in der Nähe von Seil gestrandet. Zwischen dem Vorgebirge
    Ardanalish auf der Insel Mull, einer der größten Hebriden
    im Nordwesten, und der Insel Colonsay im Südwesten er-
    glänzte eine breite ununterbrochene Meeresfläche, in der
    die Sonnenscheibe nun bald ihr Feuer löschen

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