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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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zum Zustand der Besessenheit. Man träumte
    davon Tag und Nacht, so daß eine neue Art Monomanie zu
    entstehen drohte – zu einer Zeit, wo man solche überhaupt
    nur noch schwer zählen kann. Unter dieser Beeinflussung
    des Geistes verwandelten sich alle Farben in eine einzige,
    der blaue Himmel erschien grün, die Landstraßen sahen
    grün aus, der Strand war grün, die Felsen waren grün, Was-
    ser und Wein schimmerten grün wie Absinth! Die Brüder
    Melvill bildeten sich ein, in grüner Kleidung einherzugehen
    und hielten sich für ein paar Papageien, die grünen Tabak
    aus einer grünen Dose schnupften. Mit einem Wort, es war
    eine grüne Tollheit! Alle erschienen von einer Art Daltonis-
    mus befallen, und Augenärzte hätten hier Gelegenheit ge-
    habt, ihre ophtalmologischen Revuen mit interessanten Ab-
    handlungen zu bereichern. Das konnte nicht lange dauern.
    Glücklicherweise kam Olivier Sinclair ein rettender Ge-
    danke.
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    »Miss Campbell«, begann er eines Tages, »und Sie, meine
    Herren Melvill, es scheint mir doch, alles in allem, daß wir
    in Oban recht schlecht dran sind, um das fragliche Phäno-
    men zu betrachten.«
    »Und wen trifft dieser Fehler?« antwortete Miss Camp-
    bell, während sie die beiden Schuldigen, die beschämt die
    Köpfe senkten, scharf ansah.
    »Hier gibt es keinen Meereshorizont«, fuhr der junge
    Künstler fort. »Wir sind deshalb genötigt, ihn jedesmal auf
    der Insel Seil zu suchen, und laufen Gefahr, uns gerade im
    geeigneten Augenblick nicht dort zu befinden.«
    »Das liegt auf der Hand«, stimmte Miss Campbell zu.
    »Ich weiß in der Tat nicht, wie meine Onkel dazu gekom-
    men sind, gerade diesen entsetzlichen Platz für unsere Beob-
    achtungen zu wählen.«
    »Liebe Helena«, antwortete Bruder Sam, ohne recht zu
    wissen, was er sagen sollte, »wir haben geglaubt . . .«
    ». . . ja . . . geglaubt . . . daß es . . .«, fügte Bruder Sib hinzu,
    um ihm zu Hilfe zu kommen.
    ». . . daß die Sonne es nicht unter ihrer Würde finden
    würde, jeden Abend am Horizont von Oban unterzuge-
    hen.«
    »Weil Oban doch am Meer liegt.«
    »Ihr habt eben eine völlig falsche Vorstellung gehabt,
    liebe Onkel, eine ganz falsche, da sie, von hier gesehen, nicht
    ins Meer versinkt.«
    »Leider«, stammelte Bruder Sam. »Wenn nur diese ver-
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    wünschten Inseln nicht wären, die uns die Aussicht auf das
    offene Meer rauben.«
    »Ihr verlangt doch nicht etwa, daß sie in die Luft ge-
    sprengt werden sollen?« fragte Miss Campbell.
    »Das wäre ganz sicher schon geschehen, wenn’s über-
    haupt möglich wäre«, erklärte Bruder Sib in entschlosse-
    nem Ton.
    »Wir können uns aber nicht auf der Insel Seil niederlas-
    sen«, bemerkte Bruder Sam.
    »Und warum nicht?«
    »Liebe Helena, wenn du es unbedingt willst . . .«
    »Unbedingt!«
    »Dann brechen wir dahin auf !« antworteten Bruder Sib
    und Bruder Sam resigniert.
    Und die beiden opferwilligen Wesen erklärten sich so-
    fort bereit, Oban zu verlassen.
    Da ergriff Olivier Sinclair noch einmal das Wort.
    »Miss Campbell«, sagte er, »gern bereit, Ihren Willen zu
    erfüllen, glaube ich doch, daß wir noch etwas Besseres tun
    könnten, als auf die Insel Seil umzuziehen.«
    »Reden Sie, Mr. Sinclair, und wenn Ihr Vorschlag noch
    besser ist, werden meine Onkel sich nicht weigern, ihn zu
    befolgen.«
    Die Brüder Melvill verneigten sich mit so automatischer
    Bewegung, daß sie sich vielleicht noch nie so ähnlich gese-
    hen hatten, wie in diesem Augenblick.
    »Die Insel Seil«, erklärte Olivier Sinclair, »ist wirklich
    nicht geeignet, darauf längere Zeit zu wohnen, wenn das
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    auch für wenige Tage angehen möchte. Wenn Sie gezwun-
    gen sind, Geduld zu üben, Miss Campbell, darf das doch
    nicht auf Kosten Ihres Wohlbefindens geschehen. Ich habe
    mich auch überzeugt, daß von Seil aus der Blick aufs Meer
    durch die Form der Insel sehr eingeengt ist. Wenn’s das Un-
    glück wollte, daß wir über Erwarten lange warten müßten,
    wenn unser Aufenthalt dort sich vielleicht gar über einige
    Wochen ausdehnte, könnte es kommen, daß die Sonne, die
    jetzt nach Westen zu zurückweicht, schließlich hinter der
    Insel Colonsay, der Insel Oronsay oder gar hinter Gross Is-
    lay verschwände, und aus Mangel an hinreichendem Rund-
    blick jede Beobachtung unmöglich machte.«
    »Wahrhaftig«, sagte Miss Campbell, »das wäre der letzte
    Schlag des neidischen Geschicks . . .«
    »Dem wir sehr leicht entgehen können,

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