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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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über
    ein Viertel des Horizonts nichts die Aussicht versperren.
    »Endlich werden wir ihn also schauen, diesen wunder-
    lichen Strahl, der sich so gewaltig ziert, ehe er sich einmal
    blicken läßt«, sagte Olivier Sinclair.
    »Ich glaube es«, sagte Bruder Sam.
    »Ich bin mir dessen sicher«, fügte Bruder Sib hinzu.
    »Und ich, ich hoffe es!« meinte Miss Campbell, als sie
    das verlassene Meer und den fleckenlosen Himmel betrach-
    tete.In der Tat deutete alles darauf hin, daß das Phänomen
    sich beim Untertauchen der Sonne im vollen Glanz zeigen
    würde.
    Schon war das Strahlengestirn, das in schräger Linie nie-
    dersank, nur noch wenige Grade oberhalb des Horizonts.
    Seine rotglühende Scheibe übergoß den Abendhimmel mit
    gleichmäßiger Farbe und warf einen langen glänzenden
    Streifen auf das wie in Schlummer versunkene Meer.
    — 145 —
    Stumm, in Erwartung der Erscheinung, etwas erregt von
    dem Ende eines schönen Tages, beobachteten alle die Sonne,
    die allmählich tiefer sank und einem ungeheuren Feuerball
    ähnelte. Plötzlich entrang sich Miss Campbell ein unwill-
    kürlicher Schrei; ihm folgte ein ängstlicher Ausruf, den we-
    der die Brüder Melvill noch Olivier Sinclair hatten unter-
    drücken können.
    Von dem Eiland Easdale, am Fuß der Insel Seil, stieß
    eben eine Schaluppe ab und schlug einen Kurs nach Wes-
    ten ein. Ihr gleich einem Lichtschirm aufgespanntes Segel
    überragte die Linie des Horizonts. Würde es die Sonne ge-
    rade in dem Augenblick verhüllen, wo diese in den Wogen
    erlosch?
    Das war nur eine Frage von Sekunden. Zurückzueilen,
    sich nach der einen oder anderen Seite zu begeben, um sich
    gegenüber dem letzten Berührungspunkt zu befinden, dazu
    hatte man keine Zeit. Die Schmalheit des Vorbergs gestat-
    tete es nicht, sich unter einem hinreichenden Winkel zu
    entfernen, um wieder in gleiche Richtung mit der Sonne zu
    kommen.
    Verzweifelt über diese Widerwärtigkeit lief Miss Camp-
    bell auf dem Felsen hin und her. Olivier Sinclair gab der
    Schaluppe möglichst deutliche Zeichen und rief sie an, das
    Segel einzuziehen.
    Vergebliches Bemühen! Man sah ihn dort nicht und
    konnte ihn keinesfalls hören. Die Schaluppe glitt unter
    leichtem Wind mit der Welle, die sie trug, immer weiter
    nach Westen.

    — 146 —
    — 147 —
    In dem Augenblick, als der obere Rand der Sonnen-
    scheibe verschwinden sollte, strich das Segel vor ihr vorü-
    ber und verdeckte sie mit seinem undurchsichtigen Trapez.
    Grausame Enttäuschung! Dieses Mal war der Grüne
    Strahl von der untersten Linie des dunstlosen Horizonts
    ausgegangen, hatte sich aber in dem Segel gefangen, ehe er
    den Vorberg erreichte, auf dem so viele Blicke ihn begierig
    erwarteten.
    Ganz verblüfft und vielleicht erzürnter, als es der un-
    glückliche Zufall verdiente, standen Miss Campbell, Olivier
    Sinclair und die Brüder Melvill wie versteinert auf ihrem
    Platz und vergaßen sogar fortzugehen, während sie nur die
    Schaluppe und alle, die sie trug, verwünschten.
    Inzwischen stieß das Boot an einem kleinen Einschnitt
    der Insel Seil, am Fuß des Vorbergs an Land.
    Da sprang ein Passagier ans Ufer, während die beiden Fi-
    scher, die ihn von der Insel Luing über das Meer hergebracht
    hatten, in dem Fahrzeug zurückblieben: er lief um das Vor-
    land herum und klomm die vordersten zugänglichen Fel-
    sen in die Höhe, offenbar in der Absicht, nach dem Vorberg
    zu gelangen.
    Unzweifelhaft hatte der Pechvogel die auf dem oberen
    Plateau stehenden Beobachter bemerkt und erkannt, denn
    er grüßte sie mit einer gewissen Vertraulichkeit.
    »Mr. Ursiclos!« rief Miss Campbell.
    »Er! Er ist es gewesen!« antworteten die Brüder.
    »Wer mag dieser Herr sein?« fragte sich Olivier Sinclair.
    In der Tat, es war Aristobulos Ursiclos in höchsteigener
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    Person, der eben von seinem mehrtägigen Ausflug nach der
    Insel Luing zurückkehrte.
    Wie er von denen empfangen wurde, denen er die Erfül-
    lung ihres innigsten Wunsches vereitelt hatte, braucht wohl
    kaum geschildert zu werden.
    Die Brüder Sam und Sib vergaßen, alle Regeln gewöhn-
    licher Höflichkeit vergessend sogar, Olivier Sinclair und
    Aristobulos Ursiclos einander vorzustellen. Vor der deut-
    lichen Unzufriedenheit Helenas senkten sie lieber die Au-
    gen, um den Prätendenten ihrer Wahl womöglich gar nicht
    zu sehen.
    Die kleinen Hände geballt, die Arme über der Brust ge-
    kreuzt und die Augen feuersprühend, sah Miss Campbell
    ihn an, ohne ein Wort zu

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