Der Grüne Strahl
heben, wenigstens
waren sie jeden Augenblick auf dem Schauplatz. Eine Ver-
zögerung konnte nur durch schlechtes Wetter bedingt sein.
Kurz vor Mittag schon wurde das Ziel der Reise erreicht.
Die rasche ›Pioneer‹ dampfte die Straße von Kerrera hinab,
bog um die Südspitze der Insel herum, glitt über die weite
Öffnung des Firth of Lorn hinweg, ließ zur linken Colon-
say mit der alten, im 14. Jahrhundert von den berühmten
Lords der Inseln gestifteten Abtei, und hielt sich dann dicht
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an der Küste der im offenen Meer gelegenen Insel Mull, die
einer ungeheuren Krabbe ähnelt, deren eine Schere sich
leicht nach Südwesten hin abneigt. Einen Moment zeigte
sich auch der Ben More in einer Höhe von 3.500 Fuß über
den entfernten, schroffen und rauhen Hügeln, deren natür-
lichen Schmuck nur vereinzelte Gesträuche bilden, wäh-
rend der Gipfel des genannten von Rinderherden belebte
Weiden beherrscht, welche die Spitze von Ardanalish mit
ihrer imposanten Bergmasse steil abschließt.
Das hübsche Iona erschien nun am nordwestlichen Ho-
rizont, fast an der äußersten Schere der Insel Mull. Von dort
aus erstreckte sich der ungeheure Atlantik ohne Grenzen in
die Weite.
»Sie lieben wohl den Ozean, Mr. Sinclair?« fragte Miss
Campbell ihren jungen Begleiter, der, noch immer auf der
Kommandobrücke der ›Pioneer‹ sitzend, das schöne Bild
vor sich betrachtete.
»Und ob ich ihn liebe, Miss Campbell«, antwortete er.
»Oh, und ich gehöre nicht zu jenen Unwürdigen, die des-
sen Leben einförmig finden. Meinen Augen scheint nichts
abwechslungsreicher als sein Anblick, aber man muß das
Meer unter verschiedenen Verhältnissen beobachtet haben.
In Wahrheit bietet es eine solche Fülle wunderbar mitein-
ander vermischter Nuancen, daß es für einen Maler viel-
leicht schwerer ist, die scheinbar einförmige und doch ver-
schiedene Gesamtwirkung wiederzugeben, als ein Gesicht
getreu zu malen, wenn dessen Physiognomie auch noch so
lebhaft ist.«
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»Gewiß«, sagte Miss Campbell, »es verändert sich un-
ausgesetzt, selbst ohne jeden Wind, und wechselt je nach
dem Licht, daß sich darin spiegelt, jede Stunde.«
»Betrachten Sie es zum Beispiel eben jetzt, Miss Camp-
bell«, fuhr Olivier Sinclair fort. »Es ist vollkommen ruhig.
Könnte man nicht sagen, es gliche einem schönen schlum-
mernden Gesicht, dessen wunderbare Reinheit nichts trübt?
Es hat kein Fältchen, es ist jung und schön. Ja, es bildet ei-
nen ungeheuren Spiegel, aber einen Spiegel, der das Bild des
Himmels wiedergibt und in dem Gott sich sehen kann.«
»Ein Spiegel, der freilich unter dem Wüten des Sturms
nicht selten anläuft!« fügte Miss Campbell hinzu.
»Oh«, erwiderte Olivier Sinclair, »das bringt eben die
große Verschiedenheit im Aussehen des Ozeans hervor. So-
bald nur ein leichter Wind aufspringt, verändert sich das
Gesicht, bekommt Furchen, seine Stirn schmückt sich mit
weißen Haaren, es altert gleichsam einen Augenblick und
sieht um 100 Jahre älter aus, aber es bleibt doch immer
prachtvoll mit seiner wunderbaren Phosphoreszenz und
den kochenden Schaumkämmen.«
»Glauben Sie, Mr. Sinclair«, fragte Miss Campbell, »daß
der größte Maler je imstande wäre, alle Schönheiten des
Meeres auf der Leinwand wiederzugeben?«
»Das glaub’ ich nicht, Miss Campbell, und wie wäre das
auch möglich? Das Meer hat keine eigentliche Farbe – es
erscheint nur als ungeheure Rückstrahlung des Himmels.
Ist es etwa blau? – Nein, blau kann man es nicht malen.
Ist es grün? – Es läßt sich auch nicht grün darstellen. Man
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wird es eher treffen, wenn ich so sagen darf, während seines
Wütens, wenn es düster, bleifarben und drohend aussieht,
wenn es erscheint, als mischte der Himmel alle Wolken mit
hinein, die er darüber schwebend hält. Oh, Miss Campbell,
je mehr ich ihn sehe, desto herrlicher finde ich ihn, die-
sen Ozean! ›Ozean‹! Dieses Wort sagt alles – es bedeutet
das Unermeßliche! Er bedeckt mit seinen unergründlichen
Tiefen grenzenlose Wiesen, denen gegenüber die unsrigen
wahre Wüsteneien wären, hat Darwin behauptet. Was sind
ihm gegenüber die gewaltigsten Kontinente? Einfache In-
seln, umrauscht von seinen Wassern. Er bedeckt über zwei
Drittel der Erdkugel. Durch eine Art unablässigen Kreis-
laufs – gleich einem lebenden Geschöpf, dessen Herz in
der Linie des Äquators schlüge – ernährt er sich
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