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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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heben, wenigstens
    waren sie jeden Augenblick auf dem Schauplatz. Eine Ver-
    zögerung konnte nur durch schlechtes Wetter bedingt sein.
    Kurz vor Mittag schon wurde das Ziel der Reise erreicht.
    Die rasche ›Pioneer‹ dampfte die Straße von Kerrera hinab,
    bog um die Südspitze der Insel herum, glitt über die weite
    Öffnung des Firth of Lorn hinweg, ließ zur linken Colon-
    say mit der alten, im 14. Jahrhundert von den berühmten
    Lords der Inseln gestifteten Abtei, und hielt sich dann dicht

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    an der Küste der im offenen Meer gelegenen Insel Mull, die
    einer ungeheuren Krabbe ähnelt, deren eine Schere sich
    leicht nach Südwesten hin abneigt. Einen Moment zeigte
    sich auch der Ben More in einer Höhe von 3.500 Fuß über
    den entfernten, schroffen und rauhen Hügeln, deren natür-
    lichen Schmuck nur vereinzelte Gesträuche bilden, wäh-
    rend der Gipfel des genannten von Rinderherden belebte
    Weiden beherrscht, welche die Spitze von Ardanalish mit
    ihrer imposanten Bergmasse steil abschließt.
    Das hübsche Iona erschien nun am nordwestlichen Ho-
    rizont, fast an der äußersten Schere der Insel Mull. Von dort
    aus erstreckte sich der ungeheure Atlantik ohne Grenzen in
    die Weite.
    »Sie lieben wohl den Ozean, Mr. Sinclair?« fragte Miss
    Campbell ihren jungen Begleiter, der, noch immer auf der
    Kommandobrücke der ›Pioneer‹ sitzend, das schöne Bild
    vor sich betrachtete.
    »Und ob ich ihn liebe, Miss Campbell«, antwortete er.
    »Oh, und ich gehöre nicht zu jenen Unwürdigen, die des-
    sen Leben einförmig finden. Meinen Augen scheint nichts
    abwechslungsreicher als sein Anblick, aber man muß das
    Meer unter verschiedenen Verhältnissen beobachtet haben.
    In Wahrheit bietet es eine solche Fülle wunderbar mitein-
    ander vermischter Nuancen, daß es für einen Maler viel-
    leicht schwerer ist, die scheinbar einförmige und doch ver-
    schiedene Gesamtwirkung wiederzugeben, als ein Gesicht
    getreu zu malen, wenn dessen Physiognomie auch noch so
    lebhaft ist.«
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    »Gewiß«, sagte Miss Campbell, »es verändert sich un-
    ausgesetzt, selbst ohne jeden Wind, und wechselt je nach
    dem Licht, daß sich darin spiegelt, jede Stunde.«
    »Betrachten Sie es zum Beispiel eben jetzt, Miss Camp-
    bell«, fuhr Olivier Sinclair fort. »Es ist vollkommen ruhig.
    Könnte man nicht sagen, es gliche einem schönen schlum-
    mernden Gesicht, dessen wunderbare Reinheit nichts trübt?
    Es hat kein Fältchen, es ist jung und schön. Ja, es bildet ei-
    nen ungeheuren Spiegel, aber einen Spiegel, der das Bild des
    Himmels wiedergibt und in dem Gott sich sehen kann.«
    »Ein Spiegel, der freilich unter dem Wüten des Sturms
    nicht selten anläuft!« fügte Miss Campbell hinzu.
    »Oh«, erwiderte Olivier Sinclair, »das bringt eben die
    große Verschiedenheit im Aussehen des Ozeans hervor. So-
    bald nur ein leichter Wind aufspringt, verändert sich das
    Gesicht, bekommt Furchen, seine Stirn schmückt sich mit
    weißen Haaren, es altert gleichsam einen Augenblick und
    sieht um 100 Jahre älter aus, aber es bleibt doch immer
    prachtvoll mit seiner wunderbaren Phosphoreszenz und
    den kochenden Schaumkämmen.«
    »Glauben Sie, Mr. Sinclair«, fragte Miss Campbell, »daß
    der größte Maler je imstande wäre, alle Schönheiten des
    Meeres auf der Leinwand wiederzugeben?«
    »Das glaub’ ich nicht, Miss Campbell, und wie wäre das
    auch möglich? Das Meer hat keine eigentliche Farbe – es
    erscheint nur als ungeheure Rückstrahlung des Himmels.
    Ist es etwa blau? – Nein, blau kann man es nicht malen.
    Ist es grün? – Es läßt sich auch nicht grün darstellen. Man
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    wird es eher treffen, wenn ich so sagen darf, während seines
    Wütens, wenn es düster, bleifarben und drohend aussieht,
    wenn es erscheint, als mischte der Himmel alle Wolken mit
    hinein, die er darüber schwebend hält. Oh, Miss Campbell,
    je mehr ich ihn sehe, desto herrlicher finde ich ihn, die-
    sen Ozean! ›Ozean‹! Dieses Wort sagt alles – es bedeutet
    das Unermeßliche! Er bedeckt mit seinen unergründlichen
    Tiefen grenzenlose Wiesen, denen gegenüber die unsrigen
    wahre Wüsteneien wären, hat Darwin behauptet. Was sind
    ihm gegenüber die gewaltigsten Kontinente? Einfache In-
    seln, umrauscht von seinen Wassern. Er bedeckt über zwei
    Drittel der Erdkugel. Durch eine Art unablässigen Kreis-
    laufs – gleich einem lebenden Geschöpf, dessen Herz in
    der Linie des Äquators schlüge – ernährt er sich

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