Der Grüne Strahl
darüber zu haben.
Olivier Sinclair saß auf einem kleinen Mauervorsprung und
begann mit flüchtigen Linien den Vordergrund des Terrains
zu zeichnen, auf dem sich das Kreuz MacLeans erhob.
Nach wenigen Augenblicken glaubten alle eine mensch-
liche Gestalt die ersten Stufen des Kreuzhügels erklettern
zu sehen.
»Sieh da«, rief Olivier Sinclair, »was hat denn jener Ein-
dringling dort vor? Wäre er wenigstens in Mönchskutte
aufgetaucht, dann würde er nicht störend erscheinen, und
ich hätte ihn am Fuß des alten Kreuzes als passende Staf-
fage angebracht.«
»Es ist gewiß nur ein Neugieriger, der Ihnen die Arbeit
immerhin erschweren wird«, meinte Miss Campbell.
»’s wird doch nicht Aristobulos Ursiclos sein, der uns
überholt hat?« sagte Bruder Sam.
»Ja wirklich, der ist es!« erklärte Bruder Sib.
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In der Tat ritt dort Aristobulos Ursiclos auf einem schmä-
leren Absatz des Kreuzhügels, auf den er mit einem Ham-
mer losschlug.
Ärgerlich über diese Pietätlosigkeit des Mineralogen
eilte Miss Campbell auf ihn zu.
»Was machen Sie denn da, Sir?« fragte sie.
»Wie Sie sehen, Miss Campbell«, antwortete Aristobulos
Ursiclos, »bemühe ich mich, ein Stück dieses Granits abzu-
sprengen.«
»Wozu aber diese Manie? Ich glaubte, die Zeit der Bil-
derstürmer sei vorüber.«
»Ich bin kein Bilderstürmer«, verwahrte sich Aristobu-
los Ursiclos, »wohl aber Geologe und als solcher begierig,
die Natur dieser Gesteinsart festzustellen.«
Ein heftiger Hammerschlag vollendete die Denkmals-
schändung – ein Stein des Fundaments kollerte polternd
zur Erde.
Aristobulos Ursiclos hob ihn auf und näherte ihn, die
optische Leistungsfähigkeit seiner Brille durch eine dicke
Naturforscherlupe verdoppelnd, seinen stechenden Augen.
»Ja, ja, genau wie ich dachte«, sagte er befriedigt. »Sie se-
hen hier roten Granit von sehr dichtem, widerstandsfähi-
gem Korn, der auf der Nonneninsel gebrochen sein muß,
ganz ähnlich der Art, wie sie die Baumeister des 12. Jahr-
hunderts bei der Errichtung der Kathedrale von Iona ver-
wendet haben.«
Aristobulos Ursiclos ließ sich natürlich eine so herrliche
Gelegenheit nicht entgehen, einen archäologischen Vortrag
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vom Stapel zu lassen, den die inzwischen hinzugekomme-
nen Brüder Melvill anhören zu müssen glaubten.
Miss Campbell war, ohne viele Umstände zu machen, zu
Olivier Sinclair zurückgekehrt, und nach Vollendung der
Skizze trafen sich alle im Vorhof der Kathedrale wieder.
Dieses Denkmal der Vorzeit stellt ein ziemlich verwin-
keltes, eigentlich aus zwei Kirchen bestehendes Bauwerk
dar, dessen festungsartig dicke Mauern und massive felsen-
feste Pfeiler seit 13 Jahrhunderten den Angriffen der Witte-
rung getrotzt haben.
Kurze Zeit durchwanderten die Besucher die erste Kir-
che, die sich durch die Gestalt ihrer Wölbungen und die
Bogenform ihrer Arkaden als romanische kennzeichnet;
darauf die zweite, ein gotisches Bauwerk aus dem 12. Jahr-
hundert, welches das Schiff und das Querschiff der ersteren
bildet. So schritten sie durch diese Ruinen hin, gleichsam
aus einer Epoche in die andere, über die großen Steinplatten
weg, durch deren Fugen da und dort der Erdboden sichtbar
war. Hier waren es gewaltige Deckelplatten über Grabhöh-
len, dort in den Winkeln noch aufrechtstehende Grabsteine
mit erhaben ausgearbeiteten Figuren, die den Vorüberge-
henden um ein Almosen anzusprechen schienen.
Alles zusammen atmete in seiner Massigkeit, seinem
Ernst und Schweigen den Hauch der Poesie vergangener
Zeiten.
Miss Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Mel-
vill gelangten, ohne darauf zu achten, daß ihr gelehrter Be-
gleiter zurückgeblieben war, unter die hochragende Wöl-
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bung des viereckigen Turms – eine Wölbung, die einst zum
Hauptportal der ersten Kirche gehört und sich später am
Durchschnittspunkt beider Bauwerke erhoben hatte.
Einige Augenblicke später ließen sich gleichmäßige Tritte
auf dem hohl widerhallenden Fußboden vernehmen. Man
hätte glauben können, daß eine von Geisterhauch belebte
Steinfigur, gleich dem Kommandanten im Salon Don Juans,
schwerfällig dahinschritte.
Es war Aristobulos Ursiclos, der mit abgemessener Be-
wegung der Beine die Dimensionen der Kathedrale aus-
maß.
»160 Fuß von Osten nach Westen«, verkündete er, diese
Zahl in sein Notizbuch eintragend, als er zu der zweiten
Kirche hinübertrat.
»Ah,
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