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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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darüber zu haben.
    Olivier Sinclair saß auf einem kleinen Mauervorsprung und
    begann mit flüchtigen Linien den Vordergrund des Terrains
    zu zeichnen, auf dem sich das Kreuz MacLeans erhob.
    Nach wenigen Augenblicken glaubten alle eine mensch-
    liche Gestalt die ersten Stufen des Kreuzhügels erklettern
    zu sehen.
    »Sieh da«, rief Olivier Sinclair, »was hat denn jener Ein-
    dringling dort vor? Wäre er wenigstens in Mönchskutte
    aufgetaucht, dann würde er nicht störend erscheinen, und
    ich hätte ihn am Fuß des alten Kreuzes als passende Staf-
    fage angebracht.«
    »Es ist gewiß nur ein Neugieriger, der Ihnen die Arbeit
    immerhin erschweren wird«, meinte Miss Campbell.
    »’s wird doch nicht Aristobulos Ursiclos sein, der uns
    überholt hat?« sagte Bruder Sam.
    »Ja wirklich, der ist es!« erklärte Bruder Sib.
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    In der Tat ritt dort Aristobulos Ursiclos auf einem schmä-
    leren Absatz des Kreuzhügels, auf den er mit einem Ham-
    mer losschlug.
    Ärgerlich über diese Pietätlosigkeit des Mineralogen
    eilte Miss Campbell auf ihn zu.
    »Was machen Sie denn da, Sir?« fragte sie.
    »Wie Sie sehen, Miss Campbell«, antwortete Aristobulos
    Ursiclos, »bemühe ich mich, ein Stück dieses Granits abzu-
    sprengen.«
    »Wozu aber diese Manie? Ich glaubte, die Zeit der Bil-
    derstürmer sei vorüber.«
    »Ich bin kein Bilderstürmer«, verwahrte sich Aristobu-
    los Ursiclos, »wohl aber Geologe und als solcher begierig,
    die Natur dieser Gesteinsart festzustellen.«
    Ein heftiger Hammerschlag vollendete die Denkmals-
    schändung – ein Stein des Fundaments kollerte polternd
    zur Erde.
    Aristobulos Ursiclos hob ihn auf und näherte ihn, die
    optische Leistungsfähigkeit seiner Brille durch eine dicke
    Naturforscherlupe verdoppelnd, seinen stechenden Augen.
    »Ja, ja, genau wie ich dachte«, sagte er befriedigt. »Sie se-
    hen hier roten Granit von sehr dichtem, widerstandsfähi-
    gem Korn, der auf der Nonneninsel gebrochen sein muß,
    ganz ähnlich der Art, wie sie die Baumeister des 12. Jahr-
    hunderts bei der Errichtung der Kathedrale von Iona ver-
    wendet haben.«
    Aristobulos Ursiclos ließ sich natürlich eine so herrliche
    Gelegenheit nicht entgehen, einen archäologischen Vortrag

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    vom Stapel zu lassen, den die inzwischen hinzugekomme-
    nen Brüder Melvill anhören zu müssen glaubten.
    Miss Campbell war, ohne viele Umstände zu machen, zu
    Olivier Sinclair zurückgekehrt, und nach Vollendung der
    Skizze trafen sich alle im Vorhof der Kathedrale wieder.
    Dieses Denkmal der Vorzeit stellt ein ziemlich verwin-
    keltes, eigentlich aus zwei Kirchen bestehendes Bauwerk
    dar, dessen festungsartig dicke Mauern und massive felsen-
    feste Pfeiler seit 13 Jahrhunderten den Angriffen der Witte-
    rung getrotzt haben.
    Kurze Zeit durchwanderten die Besucher die erste Kir-
    che, die sich durch die Gestalt ihrer Wölbungen und die
    Bogenform ihrer Arkaden als romanische kennzeichnet;
    darauf die zweite, ein gotisches Bauwerk aus dem 12. Jahr-
    hundert, welches das Schiff und das Querschiff der ersteren
    bildet. So schritten sie durch diese Ruinen hin, gleichsam
    aus einer Epoche in die andere, über die großen Steinplatten
    weg, durch deren Fugen da und dort der Erdboden sichtbar
    war. Hier waren es gewaltige Deckelplatten über Grabhöh-
    len, dort in den Winkeln noch aufrechtstehende Grabsteine
    mit erhaben ausgearbeiteten Figuren, die den Vorüberge-
    henden um ein Almosen anzusprechen schienen.
    Alles zusammen atmete in seiner Massigkeit, seinem
    Ernst und Schweigen den Hauch der Poesie vergangener
    Zeiten.
    Miss Campbell, Olivier Sinclair und die Brüder Mel-
    vill gelangten, ohne darauf zu achten, daß ihr gelehrter Be-
    gleiter zurückgeblieben war, unter die hochragende Wöl-
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    bung des viereckigen Turms – eine Wölbung, die einst zum
    Hauptportal der ersten Kirche gehört und sich später am
    Durchschnittspunkt beider Bauwerke erhoben hatte.
    Einige Augenblicke später ließen sich gleichmäßige Tritte
    auf dem hohl widerhallenden Fußboden vernehmen. Man
    hätte glauben können, daß eine von Geisterhauch belebte
    Steinfigur, gleich dem Kommandanten im Salon Don Juans,
    schwerfällig dahinschritte.
    Es war Aristobulos Ursiclos, der mit abgemessener Be-
    wegung der Beine die Dimensionen der Kathedrale aus-
    maß.
    »160 Fuß von Osten nach Westen«, verkündete er, diese
    Zahl in sein Notizbuch eintragend, als er zu der zweiten
    Kirche hinübertrat.
    »Ah,

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