Der Grüne Strahl
tiefen Schweigens lauschten Oli-
vier Sinclair und Miss Campbell, wie die beiden Brüder ab-
wechselnd Verse des alten Barden, des unglücklichen Soh-
nes Fingals, rezitierten: »›Stern der sinkenden Nacht, schön
funkelt im Westen dein Licht. Du hebst dein Strahlenhaupt
aus Wolken, wallst stattlich hin in deinen Höh’n. Warum
blickst auf die Ebene du?‹«
»›Vertobt ist der Stürme Gebraus, fernher kommt das
Murmeln des Bergstroms; den fernen Fels umspielt die
Brandung. Die Abendfliege schweift umher, es summt ihr
Flug durchs Gefild.‹«
»›Wonach blickst du, schönes Licht? Doch du lächelst
und schwindest hinweg. Voll Freud’ umkreisen dich die Wel-
len, sie baden dein liebliches Haar. Lebe wohl, du schwei-
gender Strahl.‹«
Dann schwiegen auch die Brüder Sam und Sib, und alle
kehrten auf ihre kleinen Stübchen in der Schänke und den
Fischerhütten zurück.
So wenig die Brüder Melvill indes Hellseher waren, muß-
ten sie doch auf jeden Fall bemerken, daß Aristobulos Ur-
siclos in den Augen von Miss Campbell gerade so viel ver-
lor, wie Olivier Sinclair gewann. Die beiden jungen Männer
mieden sich so viel wie möglich. Die beiden Onkel versuch-
ten deshalb, selbst mit einiger Mühe, diese kleine Welt un-
ter einen Hut zu bringen und gelegentliche Annäherungen
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herbeizuführen, sogar auf die Gefahr hin, ihre Nichte darü-
ber schmollen zu sehen. Sie wären ja so glücklich gewesen,
wenn Ursiclos und Sinclair einander nähergetreten wären,
statt sich zu fliehen, statt gegenseitig eine etwas verächtliche
Zurückhaltung zu beobachten. Bildeten sie sich etwa ein,
daß alle Menschen Brüder sein könnten, und gar Brüder so
wie sie selbst?
Endlich manövrierten sie so geschickt, daß man am
30. August übereinkam, in Gesellschaft die im Nordosten
wie im Süden des Abbey Hills gelegenen Ruinen der frü-
heren Kirche, des Klosters und des zugehörigen Friedhofs
zu besuchen. Diese Promenade, die den Touristen gewöhn-
lich nur 2 Stunden raubt, war von den neuen Bewohnern
Ionas noch versäumt worden. Das fühlten sie jetzt als ei-
nen Mangel an Höflichkeit gegen die legendenhaften Schat-
ten der Einsiedlermönche, die früher ihre Hütten an der
Küste hatten, als einen Mangel an Rücksicht gegen die gro-
ßen Toten aus königlichem Stamm, die aus der Zeit zwi-
schen Fergus II. und Macbeth hier der Auferstehung entge-
genschlummerten.
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15. KAPITEL
Die Ruinen von Iona
An dem genannten Tag brachen also Miss Campbell, die
Brüder Melvill und die beiden jungen Männer gleich nach
dem Frühstück auf. Es war schönes Herbstwetter, der Him-
mel zwar halbbedeckt, aber häufig brach ein glänzender
Lichtschein durch einen Riß der nur wenig dichten Wol-
ken, wobei die Ruinen, die diesen Teil der Insel krönen, die
am Ufer malerisch zerstreuten Felsen, ebenso wie die ein-
zeln über das wellige Terrain Ionas hervorragenden Häus-
chen und das von den Liebkosungen einer leichten Brise
gestreifte Meer ihr etwas trübseliges Aussehen verjüngten
und unter dem Glanz der Sonnenstrahlen aufheiterten.
Heute war kein eigentlicher Besuchstag. Am Vortag hatte
der fällige Dampfer wohl 50 Gäste an der Insel gelandet,
und ebensoviele brachte er wahrscheinlich morgen; heute
aber gehörte die Insel Iona sozusagen ihren neuen Bewoh-
nern. Die Ruinen mußten also ganz verlassen sein, wenn die
kleine Gesellschaft dahin gelangte.
Auf dem Weg ging es recht heiter zu. Die gute Laune der
Brüder Sam und Sib steckte die andern an. Sie plauderten,
gingen da- und dorthin und streiften zwischen niedrigen
Mauern aus verwittertem Gestein über die schmalen, kie-
selbedeckten Fußpfade.
Alles gestaltete sich also ganz nach Wunsch, bis man zu-
erst vor dem kleinen Kreuzhügel MacLeans haltmachte.
Dieser schöne, 14 Fuß hohe Monolith aus rotem Granit,
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der die sogenannte Main Street beherrscht, ist der einzige
Überrest von 360 Kreuzmonumenten, die bis zur Zeit der
Reformation, gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, die Insel
bedeckten.
Olivier Sinclair wollte erklärlicherweise eine Skizze die-
ses Monuments zeichnen, das, an sich eine schöne Arbeit,
gerade inmitten dieser kahlen, nur mit saftgrünem Gras ta-
pezierten Ebene eine besonders schöne Wirkung hervor-
brachte.
Miss Campell, die Brüder Melvill und der junge Maler
gruppierten sich also etwa 50 Schritte von dem Kreuzhügel
entfernt, um einen bequemen Überblick
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