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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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tiefen Schweigens lauschten Oli-
    vier Sinclair und Miss Campbell, wie die beiden Brüder ab-
    wechselnd Verse des alten Barden, des unglücklichen Soh-
    nes Fingals, rezitierten: »›Stern der sinkenden Nacht, schön
    funkelt im Westen dein Licht. Du hebst dein Strahlenhaupt
    aus Wolken, wallst stattlich hin in deinen Höh’n. Warum
    blickst auf die Ebene du?‹«
    »›Vertobt ist der Stürme Gebraus, fernher kommt das
    Murmeln des Bergstroms; den fernen Fels umspielt die
    Brandung. Die Abendfliege schweift umher, es summt ihr
    Flug durchs Gefild.‹«
    »›Wonach blickst du, schönes Licht? Doch du lächelst
    und schwindest hinweg. Voll Freud’ umkreisen dich die Wel-
    len, sie baden dein liebliches Haar. Lebe wohl, du schwei-
    gender Strahl.‹«
    Dann schwiegen auch die Brüder Sam und Sib, und alle
    kehrten auf ihre kleinen Stübchen in der Schänke und den
    Fischerhütten zurück.
    So wenig die Brüder Melvill indes Hellseher waren, muß-
    ten sie doch auf jeden Fall bemerken, daß Aristobulos Ur-
    siclos in den Augen von Miss Campbell gerade so viel ver-
    lor, wie Olivier Sinclair gewann. Die beiden jungen Männer
    mieden sich so viel wie möglich. Die beiden Onkel versuch-
    ten deshalb, selbst mit einiger Mühe, diese kleine Welt un-
    ter einen Hut zu bringen und gelegentliche Annäherungen
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    herbeizuführen, sogar auf die Gefahr hin, ihre Nichte darü-
    ber schmollen zu sehen. Sie wären ja so glücklich gewesen,
    wenn Ursiclos und Sinclair einander nähergetreten wären,
    statt sich zu fliehen, statt gegenseitig eine etwas verächtliche
    Zurückhaltung zu beobachten. Bildeten sie sich etwa ein,
    daß alle Menschen Brüder sein könnten, und gar Brüder so
    wie sie selbst?
    Endlich manövrierten sie so geschickt, daß man am
    30. August übereinkam, in Gesellschaft die im Nordosten
    wie im Süden des Abbey Hills gelegenen Ruinen der frü-
    heren Kirche, des Klosters und des zugehörigen Friedhofs
    zu besuchen. Diese Promenade, die den Touristen gewöhn-
    lich nur 2 Stunden raubt, war von den neuen Bewohnern
    Ionas noch versäumt worden. Das fühlten sie jetzt als ei-
    nen Mangel an Höflichkeit gegen die legendenhaften Schat-
    ten der Einsiedlermönche, die früher ihre Hütten an der
    Küste hatten, als einen Mangel an Rücksicht gegen die gro-
    ßen Toten aus königlichem Stamm, die aus der Zeit zwi-
    schen Fergus II. und Macbeth hier der Auferstehung entge-
    genschlummerten.
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    15. KAPITEL
    Die Ruinen von Iona
    An dem genannten Tag brachen also Miss Campbell, die
    Brüder Melvill und die beiden jungen Männer gleich nach
    dem Frühstück auf. Es war schönes Herbstwetter, der Him-
    mel zwar halbbedeckt, aber häufig brach ein glänzender
    Lichtschein durch einen Riß der nur wenig dichten Wol-
    ken, wobei die Ruinen, die diesen Teil der Insel krönen, die
    am Ufer malerisch zerstreuten Felsen, ebenso wie die ein-
    zeln über das wellige Terrain Ionas hervorragenden Häus-
    chen und das von den Liebkosungen einer leichten Brise
    gestreifte Meer ihr etwas trübseliges Aussehen verjüngten
    und unter dem Glanz der Sonnenstrahlen aufheiterten.
    Heute war kein eigentlicher Besuchstag. Am Vortag hatte
    der fällige Dampfer wohl 50 Gäste an der Insel gelandet,
    und ebensoviele brachte er wahrscheinlich morgen; heute
    aber gehörte die Insel Iona sozusagen ihren neuen Bewoh-
    nern. Die Ruinen mußten also ganz verlassen sein, wenn die
    kleine Gesellschaft dahin gelangte.
    Auf dem Weg ging es recht heiter zu. Die gute Laune der
    Brüder Sam und Sib steckte die andern an. Sie plauderten,
    gingen da- und dorthin und streiften zwischen niedrigen
    Mauern aus verwittertem Gestein über die schmalen, kie-
    selbedeckten Fußpfade.
    Alles gestaltete sich also ganz nach Wunsch, bis man zu-
    erst vor dem kleinen Kreuzhügel MacLeans haltmachte.
    Dieser schöne, 14 Fuß hohe Monolith aus rotem Granit,
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    der die sogenannte Main Street beherrscht, ist der einzige
    Überrest von 360 Kreuzmonumenten, die bis zur Zeit der
    Reformation, gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, die Insel
    bedeckten.
    Olivier Sinclair wollte erklärlicherweise eine Skizze die-
    ses Monuments zeichnen, das, an sich eine schöne Arbeit,
    gerade inmitten dieser kahlen, nur mit saftgrünem Gras ta-
    pezierten Ebene eine besonders schöne Wirkung hervor-
    brachte.
    Miss Campell, die Brüder Melvill und der junge Maler
    gruppierten sich also etwa 50 Schritte von dem Kreuzhügel
    entfernt, um einen bequemen Überblick

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