Der Grüne Strahl
Sie sind es, Mr. Ursiclos!« sagte ironisch Miss Camp-
bell. »Der Mineraloge hat sich in einen Geometer verwan-
delt?«
»Und 70 Fuß allein an der Kreuzung des Querschiffs«,
fuhr Aristobulos Ursiclos unbeirrt fort.
»Und wie viel Zoll?« fragte Olivier Sinclair.
Aristobulos Ursiclos sah Olivier Sinclair an wie einer, der
nicht weiß, ob er bös sein soll oder nicht. Zur rechten Zeit
traten jedoch die Brüder Melvill dazwischen und führten
Miss Campbell und die beiden jungen Männer zum Klos-
ter.Dieses Gebäude bietet freilich nur noch schwer erkenn-
bare Überreste, obgleich es die Zerstörungen des Refor-
mationszeitalters überlebte. Nach dieser Zeit diente es als
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Wohnung für einige fromme Kanonissinnen vom heili-
gen Augustin, denen der Staat hier Asyl gewährte. Jetzt fin-
det sich hier nichts als traurige Ruinen alter, von Stürmen
und dem Zahn der Zeit zerstörter Klosterherrlichkeit, ei-
nes Bauwerks, das weder wetterfeste Gewölbe, noch roma-
nische Pfeiler hatte, um straflos den Unbilden eines nörd-
lichen Klimas trotzen zu können.
Nachdem die Besucher in Augenschein genommen hat-
ten, was von dem einst so blühenden Kloster übriggeblie-
ben war, konnten sie noch die besser erhaltene Kapelle be-
wundern, deren innere Größenverhältnisse Aristobulos
Ursiclos nicht feststellen zu müssen glaubte. Dieser entwe-
der nicht so alten oder solider als die Refektorien und Zel-
len des Klosters erbauten Kapelle fehlte nichts als das Dach;
der hohe Chor dagegen, der noch unversehrt vorhanden ist,
bildet ein von Altertumskennern sehr geschätztes Meister-
werk der Architektur.
Im westlichen Teil der Kapelle erhebt sich das Grab der-
jenigen, die als letzte Äbtissin der Schwesterngemeinschaft
vorstand. Auf dessen Marmorplatte erkennt man eine Ge-
stalt der heiligen Jungfrau zwischen zwei Engeln, und darü-
ber eine Madonna mit dem Christuskind in den Armen.
»So wie die heilige Jungfrau mit dem Stuhl und die Six-
tinische Madonna, die einzigen Muttergottesbilder Raffaels,
welche die Augenlider nicht gesenkt haben, so blickt auch
diese offen hinaus, und es sieht aus, als ob ihre Augen lä-
chelten!«
Diese Bemerkung von Miss Campbell traf sozusagen
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den Nagel auf den Kopf, hatte aber doch kein anderes Re-
sultat, als auf den Lippen Aristoblulos Ursiclos’ ein ziemlich
spöttisches Zucken hervorzurufen.
»Wo haben Sie gelernt, Miss Campbell«, sagte er, »daß
Augen jemals lächeln könnten?«
Vielleicht hatte Miss Campbell nicht übel Lust, zu ant-
worten, daß man bei Betrachtung der seinigen diese Beob-
achtung wohl niemals werde machen können, sie schwieg
jedoch.
»Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler«, fuhr Aristo-
bulos Ursiclos fort, als dozierte er hier ex cathedra, »vom
Lächeln der Augen zu sprechen. Die Organe des Gesichts-
sinns entbehren vollständig der Ausdrucksfähigkeit, wie die
Okulistik lehrt. Beweis: Bedecken Sie ein Gesicht mit ei-
ner Maske, betrachten Sie durch sie die Augen, und ich gehe
jede Wette ein, Sie werden unmöglich unterscheiden kön-
nen, ob es heiter, traurig oder wütend aussieht.«
»Ach, wirklich?« antwortete Bruder Sam, der sich für
diese beiläufige Aufklärung zu interessieren schien.
»Ich wußte das auch nicht«, fügte Bruder Sib hinzu.
»Es ist jedoch so«, versicherte Aristobulos Ursiclos, »und
wenn ich eine Maske zur Hand hätte . . .«
Der bewundernswerte junge Mann hatte indes keine
Larve, und das Experiment zur Beseitigung jedes etwaigen
Zweifels mußte leider unterbleiben.
Überdies hatten Miss Campbell und Olivier Sinclair das
Kloster schon verlassen und sich zu der Gräberstätte Ionas
begeben.
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Diese Örtlichkeit trägt den Namen ›Reliquarium von
Oban‹, zur Erinnerung an jenen Gefährten des heiligen Ko-
lumban, dem man die Errichtung der Kapelle verdankt, de-
ren Ruinen sich mitten in diesem Totenfeld erheben.
Es ist eine merkwürdige Stelle, dieses von Grabsteinen
bedeckte Terrain, auf, oder vielmehr in dem 48 schottische
Könige, 8 Vizekönige der Hebriden, 4 Vizekönige von Ir-
land und 1 französischer König ruhen, dessen Name ebenso
in Vergessenheit geraten ist, wie der eines vorhistorischen
Herrschers. Umrahmt von langem Eisengeländer, bedeckt
mit dicht nebeneinander liegenden Steinplatten, könnte
man hier leicht glauben, eine Art Feld von Carnac vor sich
zu haben, dessen Steine Gräber und nicht
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