Der Grüne Strahl
Büschen und Hügeln des Rotwilds, . . .‹«
Und Bruder Sam fuhr fort: »›Wenn die Sonne langsam
steigt über die Stille der grauen Gebirg’, und kein Tosen
trübt den See, der im Tal prangt sanft und blau.‹«
Ohne Zweifel hätten die beiden Onkel fortgefahren, sich
immer mehr an den Gesängen Ossians zu berauschen, wenn
Aristobulos Ursiclos sie nicht rauh unterbrochen hätte, in-
dem er sagte:
»Meine Herren, haben Sie jemals einen einzigen dieser
vermuteten Genien gesehen, von denen Sie mit solchem
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Enthusiasmus sprechen? Nein! Und kann man sie über-
haupt sehen? Auch nicht, nicht wahr?«
»Darin liegt eben Ihr Irrtum, Sir, und ich beklage Sie,
sie niemals wahrgenommen zu haben«, entgegnete Miss
Campbell, die ihrem Widersacher nicht um die Breite eines
Geisterhaars nachgegeben hätte. »Man sieht sie überall er-
scheinen in den Hochlanden Schottlands, wenn sie durch
die langen öden Talgründe schweben, sich aus dem Grund
der Schluchten erheben, über die Oberfläche der Seen glei-
ten, in dem friedlichen Gewässer unserer Hebriden sich
tummeln, und noch scherzen inmitten der Stürme, die der
nordische Winter entfesselt. Und warum könnte beispiels-
weise jener Grüne Strahl, den ich mit aller Ausdauer ver-
folge, nicht vielleicht die Schärpe einer Walküre sein, de-
ren flatterndes Ende sie durch das Wasser am Horizont
schleift?«
»O nein«, rief Aristobulos Ursiclos, »davon kann keine
Rede sein. Ich will Ihnen besser sagen, welche Bewandnis es
mit Ihrem Grünen Strahl hat.«
»Sprechen Sie es nicht aus, Sir«, bat Miss Campbell, »ich
mag es nicht wissen.«
»Und doch«, widersprach ihr Aristobulos Ursiclos, den
der kleine Streit in Rage gebracht hatte.
»So verbiete ich es Ihnen . . .«
»Und ich werd’ es dennoch sagen, Miss Campbell. Der
letzte Strahl, den die Sonne in dem Augenblick aussendet,
wo der obere Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade be-
rührt, erscheint, wenn er überhaupt noch grün ist, wahr-
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scheinlich nur deshalb in dieser Farbe, weil er sie erhält,
wenn er die dünne Wasserschicht durchdringt . . .«
»Schweigen Sie, Mr. Ursiclos!«
»Falls dieses nicht ganz natürlicherweise dem glühenden
Rot der plötzlich versunkenen Sonnenscheibe folgt, dessen
Eindruck unser Auge noch bewahrt hat, weil nach der Lehre
der Optik Grün dessen Komplementärfarbe ist.«
»Ach, Sir, Ihre physikalischen Anschauungen . . .«
»Meine Anschauungen, Miss Campbell, stimmen mit
den Tatsachen überein«, antwortete Aristobulos Ursiclos,
»und ich behalte mir vor, über diesen Gegenstand eine Ab-
handlung zu veröffentlichen.«
»Wir wollen aufbrechen, liebe Onkel«, rief Miss Camp-
bell wirklich ärgerlich, »Mr. Ursiclos würde mir mit seinen
Erklärungen zuletzt meinen Grünen Strahl gründlich ver-
derben!«
Da kam ihr Olivier Sinclair zu Hilfe.
»Sir«, sagte er, »ich glaube gern, daß Ihre Abhandlung
über den Grünen Strahl ganz bemerkenswert ausfallen
wird, aber gestatten Sie mir ein anderes, vielleicht noch in-
teressanteres Thema vorzuschlagen.«
»Und welches, Sir«, fragte Aristobulos Ursiclos, sich in
die Brust werfend.
»Es ist Ihnen jedenfalls nicht unbekannt, daß einige Ge-
lehrte höchst wissenschaftlich die brennende Frage behan-
delt haben: ›Über den Einfluß der Schwänze der Fische auf
die Wellenbildung im Weltmeer?‹«
»Sir . . .«
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»Ich kann Ihren tiefsinnigen Studien auch noch einen
anderen würdigen Gegenstand bezeichnen: ›Über den Ein-
fluß der Blasinstrumente auf das Entstehen der Stürme‹.«
16. KAPITEL
Zwei Flintenschüsse
Am folgenden und während der ersten Tage des Septem-
ber sah man Aristobulos Ursiclos nicht wieder. Hatte er
Iona mit dem Touristendampfer verlassen, nachdem er sich
überzeugt hatte, daß er an der Seite von Miss Campbell nur
seine Zeit verschwendete?
Niemand hätte es sagen können. Jedenfalls tat er gut da-
ran, sich nicht wieder zu zeigen. Er erweckte in dem jungen
Mädchen jetzt nicht mehr das Gefühl der Gleichgültigkeit,
sondern mehr das echten Abscheus. Wie konnte er auch ih-
ren Strahl seiner poetischen Natur entkleiden, deren Träu-
mereien zu materialisieren, die flatternde Walkürenschärpe
in ein ganz gewöhnliches optisches Phänomen zu verwan-
deln wagen! Vielleicht hätte sie ihm alles verziehen, nur das
allein gewiß nicht.
Die Brüder Melvill erhielten nicht einmal die Erlaubnis,
Nachforschungen
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