Der Grüne Strahl
Druidenfelsen
wären.
Unter ihnen, mitten in magerem Grün, zeichnet sich der
Granitblock eines Königs von Schottland aus, jenes Dun-
can, der durch die düstere Tragödie Macbeth so weit be-
kannt werden sollte. Von diesen Steinen zeigen einige nur
Ornamente in geometrischen Linien, andere roh bearbei-
tete verschiedene wilde Keltenkönige, die mit aller Steifheit
eines Kadavers vor dem Beschauer liegen.
Wie viele Erinnerungen schweben über dieser Toten-
stadt Ionas! Wie lebhaft wird die Phantasie erregt, wenn
man dieses Saint Denis der Hebriden durchstreift!
Wie könnte jemand dabei die Strophe Ossians verges-
sen, zu der er sich offenbar an Ort und Stelle selbst begeis-
tern ließ?
›Du Sohn des entfernten Lands, du wohnst im Gefilde
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des Ruhms. Laß zu Zeiten sich heben ein Lied zum Preise
derer die fielen, laß ihre luftigen Schemen frohlocken rings
um dich her.‹
Miss Campbell und ihre Gefährten waren in schwei-
gende Betrachtung versunken. Sie brauchten sich nicht über
einen beeidigten Führer zu ärgern, der, wenn er Touristen
begleitet, den Schleier so fern zurückliegender Geschichte
mit plumpen Händen zerreißt. Ihrem geistigen Auge er-
schienen sie alle wieder, die Nachkommen des Lords der
Insel, Angus Oy, des Gefährten Robert Bruces, des Waffen-
bruders dieses Helden, der so mannhaft für die Unabhän-
gigkeit seines Landes kämpfte.
»Ich würde hierher lieber bei einbrechender Dunkel-
heit zurückkehren«, sagte Miss Campbell. »Diese Stunde
scheint mir geeigneter, alte Erinnerungen zu wecken. Ich
sähe da den Leichnam des unglücklichen Duncan bringen
und hörte die Bemerkungen der Totengräber, wenn sie ihn
zu seinen Ahnen in die geweihte Erde betten. Nicht wahr,
Mr. Sinclair, das wäre doch die günstigste Zeit, die Geister
zu rufen, die den Friedhof der Könige bewachen?«
»Gewiß, Miss Campbell, und ich denke, sie würden nicht
verweigern, auf den Ruf Ihrer Stimme zu erscheinen.«
»Wie, Miss Campbell, Sie glauben an Gespenster?« rief
Aristobulos Ursiclos.
»Ich glaube daran, Sir, glaube als echte Schottin daran«,
erwiderte Miss Campbell.
»Sie wissen aber sicherlich, daß das alles nur eine Sache
der Einbildung ist, daß nichts Unwesenhaftes existiert!«
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»Wenn es mir dennoch gefällt, daran zu glauben!« ant-
wortete Miss Campbell, etwas gereizt durch diesen unzeit-
gemäßen Widerspruch. »Wenn es mir Vergnügen macht, an
die häuslichen Brownies zu glauben, die das Mobiliar des
Hauses behüten, an Hexen, die man erscheinen lassen kann,
wenn man Runenverse deklamiert; an Walküren, diese
Schicksalsjungfrauen der skandinavischen Mythologie, die
mit den in der Schlacht gefallenen Kriegern durch die Lüfte
davonschweben; an all die gütigen Feen, die unser Dichter
Burns in Liedern besang, die kein echter Sohn der Hoch-
lande je vergessen kann:
In jener Nacht, wenn Elfen leichtfüßig
auf Cassilis Downans tanzen,
oder über die Wiesen in prächtigem Glanz
auf munteren Rennern dahinjagen,
oder der Weg nach Colean genommen wird
im fahlen Schein des Mondes,
um zur Höhle zu ziehen oder umherzuschweifen
zwischen Felsen und Bächen,
und sich zu vergnügen, in jener Nacht.
»Oh, Miss Campbell«, ergriff der halsstarrige Querkopf
wieder das Wort, »meinen Sie denn, daß die Dichter solcher
Schöpfungen ihrer Phantasie selbst Glauben beimessen?«
»Ganz gewiß, Mr. Aristobulos Ursiclos«, antwortete Oli-
vier Sinclair, »sonst würde ihre Poesie den falschen Klang
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haben, wie jedes Werk, das nicht aus tiefer Überzeugung
entsteht.«
»Sie auch, Sir?« versetzte Aristobulos Ursiclos. »Ich hielt
Sie für einen Maler, nicht für einen Dichter.«
»Das ist genau dasselbe«, erklärte Miss Campbell, »die
Kunst ist immer ein und dieselbe, nur unter verschiedenen
Formen.«
»Nein, nein, das kann ich nicht zugeben! . . . Sie glauben
nicht an die Götterlehre der alten Barden, deren gereiztes
Gehirn eingebildete Gottheiten erschuf !«
»Ah, Mr. Ursiclos«, mischte sich da Miss Campbell fast
verletzt ein, erniedrigen Sie nicht in solcher Weise diejeni-
gen unserer Vorfahren, die unser altes Schottland besungen
haben!«
»Nein, lauschen Sie ihren Worten«, fuhr Bruder Sib fort,
dem die schönen Zitate aus seinen Lieblingsdichtern wie-
der auf der Zunge lagen. »›Liebliche Töne des Lieds! Lieb-
liche Kund’ entschwundener Zeit! Mild wie stiller Morgen-
tau auf
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