Der Grüne Strahl
Gemütsstimmung mit quälender Angst im Herzen
kaum, sie anzusehen.
Die beiden Brüder Melvill erschienen buchstäblich so
strahlend wie die Sonne selbst. Sie priesen sie mit einer Art
Begeisterung, luden sie ein, hinter dem klaren dunstlosen
Horizont unterzugehen, und baten sie, ihnen am Ende die-
ses herrlichen Tages ihren letzten Strahl zuzusenden.
Gleichzeitig erinnerten sie sich wieder an die schönen
ossianischen Dichtungen und tauschten einige Verse aus.
»›O du, wie du dort oben rollst, rund um den Kreis, wie
der Führer Schild. Woher dir die Helle des Strahls, des Lich-
tes Dauer, Sonne, dir?‹«
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»›Du gehst mächtiger Schönheit hervor: Die Sterne ver-
bergen den Lauf. Am Himmel erbleichet der Mond und hüllt
sich in westlich Gewölk. Du wandelst allein die Bahn.‹«
»›Wer so kühn, sich dir zu nahn? Hoch verbirgt sich am
Himmel der Mond: Doch du allein siegprangest stets in
ew’ger Wonne deines Lichts.‹«
»›Umdüsterten Stürme die Welt mit grausem Donner,
scharfem Blitz: Blickst du in Schönheit hervor aus dem Auf-
ruhr, hold lächelnd im Tosen der Luft.‹«
In eigentümlich gehobener Stimmung wanderten alle so
jenem Ende Staffas zu, das zum freien Meer hinaus liegt.
Dort setzten sie sich auf die äußersten Felsblöcke, vor sich
einen Horizont, dessen von der Berührungsstelle zwischen
Himmel und Wasser gezogene Grenzlinie nichts trüben zu
können schien.
Diesmal konnte auch der unselige Aristobulos Ursiclos
nicht das Segelwerk eines Fahrzeugs oder einen aufgejag-
ten Schwarm von Seevögeln zwischen das Eiland von Staffa
und die Stelle des Sonnenuntergangs schieben.
Der Wind legte sich gegen Abend gänzlich, die letzten
Wellen erstarben in der sich sanft wiegenden Brandung
am Fuß der Felsen. Weiter draußen lag das Meer glatt wie
ein Spiegel und zeigte jene fast ölartige Oberfläche, auf der
man die geringste darüber huschende Streifenbildung leicht
hätte wahrnehmen können.
Alle Umstände vereinigten sich also, die Beobachtung
des Phänomens zu begünstigen.
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Aber eine halbe Stunde später streckte Patridge plötzlich
die Hand gegen Süden hin aus und rief: »Ein Segel!«
Ein Segel! Sollte das heute wieder gerade in dem Augen-
blick vor der Sonnenscheibe vorüberziehen, wo sie unter
dem Wasser verschwand? Das wäre doch eine boshafte Tü-
cke des Schicksals gewesen!
Das betreffende Fahrzeug kam aus der engen Straße, wel-
che die Insel Iona von der gegenüberliegenden Spitze von
Mull trennt. Es glitt mehr durch die Wirkung der ansteigen-
den Flut, als durch die der Seebrise hin, deren letzter Hauch
kaum gereicht haben würde, seine Segel zu schwellen.
»Oh, das ist die ›Clorinda‹«, rief Olivier Sinclair, »und da
sie unzweifelhaft auf den Osten von Staffa zuhält, wird sie
hinter uns vorbeikommen und unsere Beobachtung nicht
zu stören imstande sein.«
In der Tat war es die ›Clorinda‹, die nach Umseglung der
Südseite von Mull jetzt wieder in der Bucht von Clam Shell
vor Anker gehen wollte.
Alle Blicke richteten sich wieder nach dem westlichen
Horizont.
Die Sonne sank jetzt schon mit jener Schnelligkeit, die
sie bei Annäherung an das Meer zu beleben scheint. Auf der
Wasserfläche zitterte ein weiter Silberstreifen, der von der
glänzenden Scheibe ausging, deren Ausstrahlung das Auge
noch nicht ertragen konnte. Bald ging jene aus der Altgold-
farbe, die sie im Niedersinken annahm, in glühendes Rot-
gold über. Schloß man die Lider fest über den Augen, dann
sah man davor rote verschobene Vierecke und gelbliche
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Kreuze flimmern, die sich wie die flüchtigen Bilder des Ka-
leidoskops durchkreuzten. Ganz leichte, feine Wellenstrei-
fen verzierten noch diese Art Kometenschweif, den die Wi-
derspiegelung auf die Oberfläche des Wassers zeichnete. Es
glich einem Flockengewirbel von Silberflittern, deren Glanz
mit der Annäherung an das Ufer abnahm.
Im ganzen Umkreis des Horizonts war von einer Wolke,
von einer, wenn auch noch so zarten Dunstmasse, nicht die
Spur zu bemerken. Nichts trübte die Reinheit dieser Kreis-
linie, die man mit einem Zirkel nicht hätte feiner auf einen
weißen Bogen Papier zeichnen können.
Alle betrachteten regungslos, und doch erregter als man
glauben möchte, die leuchtende Kugel, die auf ihrem schrä-
gen Weg nach dem Horizont noch hinunterstieg und, wie
gefesselt über einem Abgrund, einen Augenblick stillzuste-
hen schien. Dann
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