Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Gemütsstimmung mit quälender Angst im Herzen
    kaum, sie anzusehen.
    Die beiden Brüder Melvill erschienen buchstäblich so
    strahlend wie die Sonne selbst. Sie priesen sie mit einer Art
    Begeisterung, luden sie ein, hinter dem klaren dunstlosen
    Horizont unterzugehen, und baten sie, ihnen am Ende die-
    ses herrlichen Tages ihren letzten Strahl zuzusenden.
    Gleichzeitig erinnerten sie sich wieder an die schönen
    ossianischen Dichtungen und tauschten einige Verse aus.
    »›O du, wie du dort oben rollst, rund um den Kreis, wie
    der Führer Schild. Woher dir die Helle des Strahls, des Lich-
    tes Dauer, Sonne, dir?‹«
    — 278 —
    »›Du gehst mächtiger Schönheit hervor: Die Sterne ver-
    bergen den Lauf. Am Himmel erbleichet der Mond und hüllt
    sich in westlich Gewölk. Du wandelst allein die Bahn.‹«
    »›Wer so kühn, sich dir zu nahn? Hoch verbirgt sich am
    Himmel der Mond: Doch du allein siegprangest stets in
    ew’ger Wonne deines Lichts.‹«
    »›Umdüsterten Stürme die Welt mit grausem Donner,
    scharfem Blitz: Blickst du in Schönheit hervor aus dem Auf-
    ruhr, hold lächelnd im Tosen der Luft.‹«
    In eigentümlich gehobener Stimmung wanderten alle so
    jenem Ende Staffas zu, das zum freien Meer hinaus liegt.
    Dort setzten sie sich auf die äußersten Felsblöcke, vor sich
    einen Horizont, dessen von der Berührungsstelle zwischen
    Himmel und Wasser gezogene Grenzlinie nichts trüben zu
    können schien.
    Diesmal konnte auch der unselige Aristobulos Ursiclos
    nicht das Segelwerk eines Fahrzeugs oder einen aufgejag-
    ten Schwarm von Seevögeln zwischen das Eiland von Staffa
    und die Stelle des Sonnenuntergangs schieben.
    Der Wind legte sich gegen Abend gänzlich, die letzten
    Wellen erstarben in der sich sanft wiegenden Brandung
    am Fuß der Felsen. Weiter draußen lag das Meer glatt wie
    ein Spiegel und zeigte jene fast ölartige Oberfläche, auf der
    man die geringste darüber huschende Streifenbildung leicht
    hätte wahrnehmen können.
    Alle Umstände vereinigten sich also, die Beobachtung
    des Phänomens zu begünstigen.
    — 279 —
    Aber eine halbe Stunde später streckte Patridge plötzlich
    die Hand gegen Süden hin aus und rief: »Ein Segel!«
    Ein Segel! Sollte das heute wieder gerade in dem Augen-
    blick vor der Sonnenscheibe vorüberziehen, wo sie unter
    dem Wasser verschwand? Das wäre doch eine boshafte Tü-
    cke des Schicksals gewesen!
    Das betreffende Fahrzeug kam aus der engen Straße, wel-
    che die Insel Iona von der gegenüberliegenden Spitze von
    Mull trennt. Es glitt mehr durch die Wirkung der ansteigen-
    den Flut, als durch die der Seebrise hin, deren letzter Hauch
    kaum gereicht haben würde, seine Segel zu schwellen.
    »Oh, das ist die ›Clorinda‹«, rief Olivier Sinclair, »und da
    sie unzweifelhaft auf den Osten von Staffa zuhält, wird sie
    hinter uns vorbeikommen und unsere Beobachtung nicht
    zu stören imstande sein.«
    In der Tat war es die ›Clorinda‹, die nach Umseglung der
    Südseite von Mull jetzt wieder in der Bucht von Clam Shell
    vor Anker gehen wollte.
    Alle Blicke richteten sich wieder nach dem westlichen
    Horizont.
    Die Sonne sank jetzt schon mit jener Schnelligkeit, die
    sie bei Annäherung an das Meer zu beleben scheint. Auf der
    Wasserfläche zitterte ein weiter Silberstreifen, der von der
    glänzenden Scheibe ausging, deren Ausstrahlung das Auge
    noch nicht ertragen konnte. Bald ging jene aus der Altgold-
    farbe, die sie im Niedersinken annahm, in glühendes Rot-
    gold über. Schloß man die Lider fest über den Augen, dann
    sah man davor rote verschobene Vierecke und gelbliche
    — 280 —
    Kreuze flimmern, die sich wie die flüchtigen Bilder des Ka-
    leidoskops durchkreuzten. Ganz leichte, feine Wellenstrei-
    fen verzierten noch diese Art Kometenschweif, den die Wi-
    derspiegelung auf die Oberfläche des Wassers zeichnete. Es
    glich einem Flockengewirbel von Silberflittern, deren Glanz
    mit der Annäherung an das Ufer abnahm.
    Im ganzen Umkreis des Horizonts war von einer Wolke,
    von einer, wenn auch noch so zarten Dunstmasse, nicht die
    Spur zu bemerken. Nichts trübte die Reinheit dieser Kreis-
    linie, die man mit einem Zirkel nicht hätte feiner auf einen
    weißen Bogen Papier zeichnen können.
    Alle betrachteten regungslos, und doch erregter als man
    glauben möchte, die leuchtende Kugel, die auf ihrem schrä-
    gen Weg nach dem Horizont noch hinunterstieg und, wie
    gefesselt über einem Abgrund, einen Augenblick stillzuste-
    hen schien. Dann

Weitere Kostenlose Bücher