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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sie
    ein und der letzte Teil der Nacht verlief in ungestörtem
    Frieden.
    Der Eindruck freilich, den die Beteiligten, wie die Zeu-
    gen jener Szene, die sich in der Fingalshöhle abspielte, emp-
    fangen hatten, sollte ihnen niemals mehr aus dem Gedächt-
    nis schwinden.
    Während Miss Campbell am folgenden Tag noch auf
    dem für sie reservierten Lager im Hintergrund der Clam-
    — 271 —
    Shell-Grotte ruhte, gingen die Brüder Melvill Arm in Arm
    auf dem benachbarten Teil des Uferdamms hin und her. Sie
    sprachen zwar nicht, hatten aber eigentlich auch gar nicht
    das Bedürfnis, ihre völlig gleichen Gedanken in Worte zu
    übersetzen. Beide bewegten in genau demselben Augen-
    blick den Kopf von oben nach unten, wenn sie etwas bestä-
    tigen, und von links nach rechts, wenn sie etwas verneinen
    wollten. Und was konnten sie zu bestätigen haben, außer
    der Tatsache, daß Olivier Sinclair sein Leben daran gewagt
    hatte, das unvorsichtige junge Mädchen zu retten? Und was
    verneinten sie? Daß ihre früheren Pläne jetzt noch erfüll-
    bar seien. Bei dieser stummen Unterhaltung sagten sie sich
    auch mancherlei, was die Brüder Sam und Sib in der nächs-
    ten Zeit würden eintreffen sehen. In ihren Augen war Oli-
    vier nicht mehr Olivier. Er war jetzt kein Geringerer als Ar-
    nim, der hervorragendste Held der gälischen Heldensage.
    Olivier Sinclair seinerseits war jetzt eine Beute sehr na-
    türlicher Überreizung. Ein gewisses Zartgefühl drängte ihn,
    sich von den anderen fernzuhalten. Er fühlte sich beklom-
    men gegenüber den Brüdern Melvill, als ob er durch seine
    Gegenwart andeutete, daß er auf Belohnung für seine Op-
    ferwilligkeit warte.
    So verließ er schon früh die Clam-Shell-Grotte und ging
    allein auf dem Plateau der Insel spazieren.
    Seine Gedanken eilten dabei freilich ganz von selbst zu
    Miss Campbell. An die Gefahren, denen er getrotzt und die
    er mit ihr geteilt hatte, dachte er gewiß nicht mehr; in sei-
    ner Erinnerung schwebten aus dieser fürchterlichen Nacht
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    nur noch die glücklichen Stunden, die er an der Seite He-
    lenas verbracht, als er sie in jener dunklen Nische mit den
    Armen umschlugen hatte, um sie vor dem Anprall der Wo-
    gen zu schützen. Er sah noch bei dem phosphoreszieren-
    den Schein die Gestalt des schönen jungen Mädchens, die
    mehr aus Erschöpfung als aus Furcht erbleicht war, wie sie
    sich gleich einem Genius des Sturms angesichts des wüten-
    den Meeres erhob. Er hörte sie noch mit zitternder Stimme
    sagen: »Olivier! . . . Sie wußten es?« als er sagte: »Ich weiß,
    daß ich Ihnen meine Rettung aus dem Strudel des Corry-
    vrekan zu danken habe.«
    Er glaubte sich wieder im Grund jener kleinen Aushöh-
    lung, jener Nische, die eher für die Aufstellung eines Stein-
    bilds geschaffen schien, in der zwei junge, liebende Wesen
    so lange schreckliche Stunden gelitten und eines an der
    Seite des anderen gekämpft hatten. Da waren sie nicht mehr
    Sinclair und Miss Campbell; sie hatten sich Olivier und He-
    lena genannt, als wollten sie in dem Augenblick, wo der Tod
    sie bedrohte, ein neues Leben miteinander beginnen.
    So durchwirbelten Gedanken aller Art das Gehirn des
    jungen Mannes, als er auf dem Plateau von Staffa umher-
    ging. Wie groß auch sein Verlangen war, an Miss Campbells
    Seite zurückzukehren, immer hielt ihn eine unbezwingliche
    Kraft gegen seinen Willen zurück, weil er in ihrer Gegenwart
    vielleicht gesprochen hätte und doch schweigen wollte.
    Inzwischen hatte sich, wie das nach plötzlichen gewalt-
    samen Störungen der Atmosphäre nicht selten vorkommt,
    das Wetter ganz überraschend schön gestaltet und lächelte
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    der Himmel in wunderbarer Klarheit. Sehr häufig hinter-
    lassen ja hier die heftigsten Südweststürme keine Spuren,
    verleihen vielmehr der Luft eine Durchsichtigkeit ohneglei-
    chen. Die Sonne hatte schon ihren höchsten Stand über-
    schritten, ohne daß sich der Horizont auch nur mit dem ge-
    ringsten Dunst verschleierte.
    Olivier Sinclair wandelte mit siedendheißem Kopf unter
    den intensiven Lichtstrahlen, die das Plateau der Insel wi-
    derspiegelte, dahin. Er badete gleichsam in den warmen Ef-
    fluvien, atmete die wohltuende Seebrise und stärkte sich in
    der blendenden Atmosphäre.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke – ein Gedanke, den er
    vor den anderen, die ihn jetzt bestürmten, fast ganz verges-
    sen hätte – als er den herrlichen reinen Horizont erblickte.
    »Ach, der Grüne Strahl!« rief er. »Wenn

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