Der Grüne Strahl
geschehen.
Der unerschrockene junge Mann hatte jedoch die Kraft,
mehrere Stunden lang so auszuhalten. Er hielt Miss Camp-
bell, deckte sie gegen den wilden Wogenschlag, kämpfte,
indem er sich nur mit den Ellenbogen an die Basaltvor-
sprünge stemmte, und das mitten in einer Finsternis, die
das Verlöschen der Phosphoreszenzerscheinungen ganz tief
erscheinen ließ, mitten unter diesem unaufhörlichen Don-
ner des anprallenden, gurgelnden Wassers und des heulen-
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den Sturms. Das war jetzt nicht mehr die Stimme Selmas,
die im Fingals-Palast widerhallte. Es war das betäubende
Gebell der Hunde von Kamtschatka, die, sagt Michelet, »in
großen, zu Tausenden zählenden Banden während der lan-
gen Nächte den heulenden Wogen antworten und mit der
Wut eines nördlichen Ozeans wetteifern!«
Endlich machte sich die eintretende Ebbe bemerkbar.
Olivier Sinclair überzeugte sich, daß auch die hohle See sich
mit dem fallenden Wasser ein wenig beruhigte. Jetzt war es
in der Höhle so vollkommen finster, daß es draußen noch
verhältnismäßig tageshell zu sein schien. In diesem Halb-
schatten zeichnete sich die Öffnung der Grotte, die nicht
mehr von dem aufwallenden Meer verschlossen wurde, in
geisterhaften Umrissen ab. Bald spritzten nur noch Schaum-
flocken bis zum Fuß von Fingals Armstuhl hinauf. Jetzt bil-
deten die Wellen nicht mehr einen Lasso, der sein Opfer
umschlingt und mit sich fortreißt. In Olivier Sinclairs Herz
zog allmählich wieder die Hoffnung ein.
Durch Schätzung nach dem Stand des Meeres konnte
man annehmen, daß Mitternacht vorüber war. Noch 2 Stun-
den, dann spülten die Wellen voraussichtlich nicht mehr
über die Galerie hinweg, und sie mußte wieder gangbar
werden. Olivier hatte freilich Mühe, bei der herrschenden
Finsternis überhaupt etwas zu sehen, überzeugte sich aber
schließlich doch, daß der ersehnte Zeitpunkt, die Grotte zu
verlassen, endlich gekommen war.
Miss Campbell hatte auch jetzt die Besinnung nicht wie-
dererlangt. Olivier Sinclair hielt ihren gänzlich leblosen
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Körper in den Armen; vorsichtig schlich er aus dem Arm-
stuhl Fingals hervor und begann dem schmalen Steig zu fol-
gen, dessen Eisengeländer von den wütenden Wellen verbo-
gen, zum Teil sogar losgerissen war.
Wenn ein Wasserberg ihn noch zu erreichen drohte,
blieb er stehen oder wich einen Schritt zurück.
Noch zuletzt, als Olivier Sinclair dem Ausgang der Höhle
ganz nah war, stürzte noch einmal eine Wassermasse völlig
über ihn hinweg . . . Er fürchtete mit Miss Campbell an die
Wand gedrückt und dann in den Abgrund gerissen zu wer-
den, der sich unter seinen Füßen öffnen mußte . . .
Mit dem letzten Aufgebot aller Kräfte leistete er Wider-
stand, und als das Wasser zurückströmte, benutzte er den
günstigen Augenblick, schnell aus der Grotte zu entkom-
men.
Nach wenigen Augenblicken hatte er den scharfen Win-
kel des Ufers erreicht, wo ihn die Brüder Melvill, Patridge
und Mrs. Bess, die auch herbeigeeilt war, schon die ganze
Nacht erwarteten.
Er und sie waren gerettet.
Jetzt verließ aber auch Olivier Sinclair die geistige und
körperliche Energie, die er zuletzt fast künstlich aufrecht-
erhalten hatte, und nachdem er noch Miss Campbell in die
Arme von Mrs. Bess gelegt hatte, sank er bewegungslos am
Fuß der Felsen zusammen.
Ohne seinen Mut und seine Opferwilligkeit wäre Miss
Campbell nicht lebend aus der Fingalshöhle herausgekom-
men.
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22. KAPITEL
Der Grüne Strahl
Unter dem Einfluß der frischen Luft schlug Miss Campbell
einige Minuten später in der Clam-Shell-Grotte die Au-
gen wieder auf, als erwache sie aus einem Traum, den das
Bild Olivier Sinclairs in all seinen Phasen belebt und erfüllt
hatte. An die Gefahren, denen sie infolge ihrer Unklugheit
ausgesetzt gewesen war, erinnerte sie sich kaum mehr.
Sprechen konnte sie noch nicht; beim Anblick Olivier
Sinclairs aber traten ihr Tränen der Dankbarkeit in die Au-
gen und sie streckte ihrem Retter die Hände entgegen.
Die Brüder Sam und Sib preßten, keines Wortes mäch-
tig, den jungen Mann gleich alle beide in die Arme. Mrs.
Bess machte ihm eine tiefe Verbeugung nach der anderen,
und Patridge schien nicht übel Lust zu haben, ihn ans Herz
zu drücken.
Dann übermannte jedoch alle die Müdigkeit, und nach-
dem sie noch die durch das Meer wie auch durch den Him-
mel durchnäßten Kleider gewechselt hatten, schliefen
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