Der Grüne Strahl
wie die ›Morning Post‹ sehr richtig be-
merkte.
Es hatte recht, das wohlinformierte Journal.
Zunächst geht es um Ausmachen und Auswahl eines ge-
eigneten Punkts der westlichen Küste, von dem aus die Er-
scheinung überhaupt beobachtet werden konnte. Um einen
solchen zu finden, mußte man wenigstens über den Busen
des Clyde hinausgehen.
In der Tat ist diese Einbuchtung seewärts des Firth of
Clyde mit allerlei Hindernissen erfüllt, die das Gesichts-
feld einschränken. Da sind die Kyles von Bute, die Insel Ar-
ran, die Halbinsel Knapdale und Cantyre, Jura, Islay, lauter
aus geologischer Epoche her verstreute Felsenmassen, die
den größten Teil der Grafschaft Argyle zu einem Archipel
umgestalten und es unmöglich machen, dort einen Kreis-
abschnitt des Meeres zu entdecken, innerhalb welchem das
Auge den Untergang der Sonne beobachten könnte.
Wollte man nun Schottland selbst nicht verlassen, so
mußte man sich mehr in den Norden oder den Süden des
Landes begeben, wo sich ein unbegrenzter Fernblick bietet,
und das auch noch vor dem Auftreten der Herbstnebel aus-
führen.
Wohin die Reise gehen würde, das war Miss Campbell
gleich. Ob an die Küste von Irland, der von Frankreich, Nor-
— 36 —
wegen, Spanien oder Portugal – sie wäre überall mit hinge-
gangen, wo das Strahlengestirn des Himmels sie beim Un-
tergang mit seinem letzten Lichtblitz begrüßen konnte, und
ob das den Brüdern Melvill paßte oder nicht, sie mußten ihr
eben nachgeben.
Die beiden Onkel beeilten sich also, das Wort zu er-
greifen, nachdem sie sich einen fragenden Blick zugewor-
fen hatten – aber was für einen Blick, und wie durchleuch-
tete ihn der frohe Schimmer eines feinen diplomatischen
Schachzugs!
»Nun gut, meine liebe Helena«, begann Bruder Sam, »es
ist ja ganz leicht, deinen Wunsch zu erfüllen. Wir wollen
nach Oban gehen.«
»Es liegt auf der Hand, daß es einen geeigneteren Punkt
als Oban gar nicht geben kann«, fügte Bruder Sib hinzu.
»Meinetwegen nach Oban«, versetzte Miss Campbell.
»Aber hat Oban auch wirklich einen freien Meereshorizont
vor sich?«
»Das will ich meinen!« rief Bruder Sam.
»Es hat vielleicht sogar zwei!« bestätigte Bruder Sib.
»Gut, dann reisen wir dahin.«
»Binnen 3 Tagen«, meinte einer der Onkel.
»Binnen 2 Tagen«, sagte der andere, der es für angezeigt
hielt, diese kleine Konzession zu machen.
»Nein, morgen«, erklärte Miss Campbell aufstehend, da
eben die Tischglocke läutete.
»Morgen . . . jawohl, morgen!« sagte Bruder Sam klein-
laut.
— 37 —
»Ich wünschte, wir wären schon da«, äußerte Bruder
Sib.Sie sagten beide die Wahrheit. Warum aber diese Eile?
Weil Aristobulos Ursiclos sich seit 14 Tagen zum Landauf-
enthalt nach Oban begeben hatte; weil Miss Campbell, die
davon nichts wußte, sich dort in Gesellschaft dieses jungen
Herrn befinden würde, den sie aus allen Gelehrten erwählt
hatten, während die Brüder Melvill gar nicht daran zweifel-
ten, daß es in Oban entsetzlich langweilig war. Die jetzt et-
was hinterlistigen Brüder setzten nämlich darauf, daß Miss
Campbell es zeitig genug überdrüssig werden dürfte, ver-
geblich auf einen geeigneten Sonnenuntergang zu harren,
daß sie dann von ihrer etwas phantastischen Schrulle abse-
hen und dem ihr zugedachten Verlobten die Hand reichen
werde. Doch selbst wenn Helena das geahnt hätte, hätte das
auf sie keinen Einfluß gehabt. Die Anwesenheit von Aristo-
bulos Ursiclos wäre nicht dazu angetan, sie zu genieren.
»Bet!«
»Beth!«
»Bess!«
»Betsey!«
»Betty!«
Wieder schallte die ganze Rufnamenreihe durch den Sa-
lon; diesmal aber erschien Mrs. Bess in eigener Person und
empfing den Befehl, morgen alles zu einer bevorstehenden
Abreise bereitzustellen.
Es galt in der Tat zu eilen. Das jetzt über 30 3/10 Zoll
(760 mm) hoch stehende Barometer versprach noch an-
— 38 —
haltend gutes Wetter. Wenn man morgen früh abreiste,
konnte man noch zu guter Stunde in Oban eintreffen, um
den Sonnenuntergang zu beobachten.
Natürlich waren Mrs. Bess und Patridge wegen dieser
plötzlichen Reise mit Arbeit überhäuft. Die 47 Schlüssel der
wackeren Frau klirrten und klingelten wie die Schellen am
Lederzeug eines spanischen Maulesels. Wie viele Schränke,
wie viele Kästen gab es da zu öffnen und zu verschließen.
Vielleicht blieb das Cottage in Helensburgh auf lange Zeit
verlassen. Wer konnte die Launen von Miss Campbell ah-
nen?
Weitere Kostenlose Bücher