Der Grüne Strahl
Wenn es dem liebenswerten Mädchen nun einfiel, ih-
rem Grünen Strahl nachzulaufen? Und wenn dieser Grüne
Strahl gar damit kokettierte, sich zu verstecken? Wenn nun
der Horizont von Oban nicht die zu derartigen Beobach-
tungen unentbehrliche Klarheit darbot? Wenn es sich nö-
tig machte, einen anderen astronomischen Standpunkt am
südlicheren Ufer Schottlands, an dem Englands oder Irlands
aufzusuchen, vom Kontinent ganz zu schweigen? Morgen
würde man abreisen, das stand wohl fest; aber wann würde
man zum Cottage zurückkehren? Nach 1 oder nach 6 Mo-
naten, nach 1 oder nach 6 Jahren?
»Wie kommt sie nur auf die Idee, den Grünen Strahl se-
hen zu wollen?« fragte Mrs. Bess, die Patridge nach Kräften
unterstützte.
»Ja, weiß ich’s?« antwortete Patridge, »doch es muß wohl
seinen guten Grund haben, denn unsere junge Herrin tut
nichts ohne vernünftige Ursache, das wissen Sie ja so gut
wie ich, Mavourneen!«
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Mavourneen ist ein Schmeichelwort, das man in Schott-
land oft und gern verwendet, und dem im Deutschen unge-
fähr ›mein Schätzchen‹ entspricht. Der vortrefflichen Haus-
verwalterin mißfiel es auch nicht im geringsten, sich von
dem braven Schotten so nennen zu hören.
»Patridge«, antwortete sie, »ich vermute ganz wie Sie,
daß dieser Einfall von Miss Campbell, der ihr über Nacht
gekommen sein muß, irgendeinen geheimen Hintergedan-
ken bergen möge.«
»Welchen?«
»Oh, wer weiß? Wenn nicht eine Ablehnung, so doch
eine Hinausschiebung der Projekte ihrer Onkel.«
»Wahrhaftig«, erwiderte Patridge, »ich begreife nicht,
warum die Herren Melvill auf jenen Herrn Ursiclos so rein-
weg versessen sind. Ist denn das der rechte Mann für unser
Fräulein?«
»Halten Sie sich überzeugt, Patridge«, entgegnete Mrs.
Bess, »daß sie ihn, wenn er ihr nur zur Hälfte gefällt, über-
haupt nicht heiratet. Sie wird ihren Onkeln ein nettes, run-
des ›Nein‹ sagen, küßt sie dabei auf die Wangen, und ihre
Onkel werden sofort höchlich erstaunt sein, wie sie an den
Genannten nur je haben denken können, an ihn, dessen
Anmaßungen mir auch keineswegs gefallen.«
»So wenig, wie mir, Mavourneen!«
»Sehen Sie, Patridge, Miss Campbells Herz gleicht ganz
dieser Schublade, die mit einem Sicherheitsschloß versehen
ist. Sie allein hat den Schlüssel dazu, und um die Lade zu
öffnen, muß sie ihn herausgeben . . .«
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»Wenn man ihr ihn nicht wegnimmt«, meinte Patridge,
zustimmend lächelnd.
»Das wird nicht geschehen, solange sie ihn sich nicht
nehmen lassen will«, versicherte Mrs. Bess, »und da soll der
Wind mir doch meine Haube gleich nach dem Glocken-
turm von St. Mungo entführen, wenn unser junges Fräulein
jemals Mr. Ursiclos heiratet!«
»Einen Südländer!« rief Patridge, »einen ›Southerner‹,
der, wenn er auch in Schottland geboren ist, doch immer
südlich des Tweed gelebt hat!«
Mrs. Bess schüttelte den Kopf. Die beiden Hochländer
verstanden sich vollkommen. In ihren Augen gehörten die
niedrigen Landesteile kaum zum alten Kaledonien, trotz al-
ler Verträge der Union. Entschieden waren die beiden keine
Begünstiger des geplanten Ehebundes; sie erhofften für
Miss Campbell eine bessere Partie. Wenn die vorliegende
auch unter manchen Gesichtspunkten auch passend er-
schien, so genügte sie ihnen doch noch nicht.
»Ach, Patridge«, ergriff Mrs. Bess wieder das Wort, »die
alten Gewohnheiten der Hochländer waren doch die bes-
ten, und ich glaube, daß die Heiraten, zufolge der Sitten der
alten Clans, mehr Glück gewährt haben, als das heutzutage
der Fall ist.«
»Sie haben nur ein wahres Wort gesprochen, Mavour-
neen!« antwortete Patridge ernsthaft. »Damals wählte man
etwas mehr unter Befragung des Herzens und weniger un-
ter Befragung des Geldbeutels. Das Geld ist ja ganz gut, aber
die Zuneigung ist doch noch besser und mehr wert.«
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»Jawohl, Patridge, und außerdem hielt man auch dar-
auf, sich kennenzulernen, ehe man an den Altar trat. Erin-
nern Sie sich noch an die Gepflogenheiten von der Messe
zu Saint Olla in Kirkwall? Während ihrer ganzen Dauer,
das heißt von Anfang August an, traten die jungen Leute
zu Paaren zusammen, und diese Paare nannte man ›Bruder
und Schwester vom 1. August‹. Bruder und Schwester, bil-
det das nicht eine vortreffliche Vorschule, um später Mann
und Frau zu werden? Doch dabei fällt mir ein, daß wir
heute gerade den richtigen
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