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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Wenn es dem liebenswerten Mädchen nun einfiel, ih-
    rem Grünen Strahl nachzulaufen? Und wenn dieser Grüne
    Strahl gar damit kokettierte, sich zu verstecken? Wenn nun
    der Horizont von Oban nicht die zu derartigen Beobach-
    tungen unentbehrliche Klarheit darbot? Wenn es sich nö-
    tig machte, einen anderen astronomischen Standpunkt am
    südlicheren Ufer Schottlands, an dem Englands oder Irlands
    aufzusuchen, vom Kontinent ganz zu schweigen? Morgen
    würde man abreisen, das stand wohl fest; aber wann würde
    man zum Cottage zurückkehren? Nach 1 oder nach 6 Mo-
    naten, nach 1 oder nach 6 Jahren?
    »Wie kommt sie nur auf die Idee, den Grünen Strahl se-
    hen zu wollen?« fragte Mrs. Bess, die Patridge nach Kräften
    unterstützte.
    »Ja, weiß ich’s?« antwortete Patridge, »doch es muß wohl
    seinen guten Grund haben, denn unsere junge Herrin tut
    nichts ohne vernünftige Ursache, das wissen Sie ja so gut
    wie ich, Mavourneen!«
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    Mavourneen ist ein Schmeichelwort, das man in Schott-
    land oft und gern verwendet, und dem im Deutschen unge-
    fähr ›mein Schätzchen‹ entspricht. Der vortrefflichen Haus-
    verwalterin mißfiel es auch nicht im geringsten, sich von
    dem braven Schotten so nennen zu hören.
    »Patridge«, antwortete sie, »ich vermute ganz wie Sie,
    daß dieser Einfall von Miss Campbell, der ihr über Nacht
    gekommen sein muß, irgendeinen geheimen Hintergedan-
    ken bergen möge.«
    »Welchen?«
    »Oh, wer weiß? Wenn nicht eine Ablehnung, so doch
    eine Hinausschiebung der Projekte ihrer Onkel.«
    »Wahrhaftig«, erwiderte Patridge, »ich begreife nicht,
    warum die Herren Melvill auf jenen Herrn Ursiclos so rein-
    weg versessen sind. Ist denn das der rechte Mann für unser
    Fräulein?«
    »Halten Sie sich überzeugt, Patridge«, entgegnete Mrs.
    Bess, »daß sie ihn, wenn er ihr nur zur Hälfte gefällt, über-
    haupt nicht heiratet. Sie wird ihren Onkeln ein nettes, run-
    des ›Nein‹ sagen, küßt sie dabei auf die Wangen, und ihre
    Onkel werden sofort höchlich erstaunt sein, wie sie an den
    Genannten nur je haben denken können, an ihn, dessen
    Anmaßungen mir auch keineswegs gefallen.«
    »So wenig, wie mir, Mavourneen!«
    »Sehen Sie, Patridge, Miss Campbells Herz gleicht ganz
    dieser Schublade, die mit einem Sicherheitsschloß versehen
    ist. Sie allein hat den Schlüssel dazu, und um die Lade zu
    öffnen, muß sie ihn herausgeben . . .«

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    »Wenn man ihr ihn nicht wegnimmt«, meinte Patridge,
    zustimmend lächelnd.
    »Das wird nicht geschehen, solange sie ihn sich nicht
    nehmen lassen will«, versicherte Mrs. Bess, »und da soll der
    Wind mir doch meine Haube gleich nach dem Glocken-
    turm von St. Mungo entführen, wenn unser junges Fräulein
    jemals Mr. Ursiclos heiratet!«
    »Einen Südländer!« rief Patridge, »einen ›Southerner‹,
    der, wenn er auch in Schottland geboren ist, doch immer
    südlich des Tweed gelebt hat!«
    Mrs. Bess schüttelte den Kopf. Die beiden Hochländer
    verstanden sich vollkommen. In ihren Augen gehörten die
    niedrigen Landesteile kaum zum alten Kaledonien, trotz al-
    ler Verträge der Union. Entschieden waren die beiden keine
    Begünstiger des geplanten Ehebundes; sie erhofften für
    Miss Campbell eine bessere Partie. Wenn die vorliegende
    auch unter manchen Gesichtspunkten auch passend er-
    schien, so genügte sie ihnen doch noch nicht.
    »Ach, Patridge«, ergriff Mrs. Bess wieder das Wort, »die
    alten Gewohnheiten der Hochländer waren doch die bes-
    ten, und ich glaube, daß die Heiraten, zufolge der Sitten der
    alten Clans, mehr Glück gewährt haben, als das heutzutage
    der Fall ist.«
    »Sie haben nur ein wahres Wort gesprochen, Mavour-
    neen!« antwortete Patridge ernsthaft. »Damals wählte man
    etwas mehr unter Befragung des Herzens und weniger un-
    ter Befragung des Geldbeutels. Das Geld ist ja ganz gut, aber
    die Zuneigung ist doch noch besser und mehr wert.«
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    »Jawohl, Patridge, und außerdem hielt man auch dar-
    auf, sich kennenzulernen, ehe man an den Altar trat. Erin-
    nern Sie sich noch an die Gepflogenheiten von der Messe
    zu Saint Olla in Kirkwall? Während ihrer ganzen Dauer,
    das heißt von Anfang August an, traten die jungen Leute
    zu Paaren zusammen, und diese Paare nannte man ›Bruder
    und Schwester vom 1. August‹. Bruder und Schwester, bil-
    det das nicht eine vortreffliche Vorschule, um später Mann
    und Frau zu werden? Doch dabei fällt mir ein, daß wir
    heute gerade den richtigen

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