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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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den Grü-
    nen Strahl nur einmal gesehen hat, sich in Herzenssachen
    nicht mehr täuschen könne; sein Erscheinen zerstört alle Il-
    lusionen und Unwahrheiten; wer so glücklich war, ihn nur
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    einmal wahrzunehmen, sieht dann ebenso klar im eigenen
    Herzen wie in dem anderer.
    Verzeihe man der jungen Schottin der Hochlande das
    poetische Vertrauen, das die Lektüre des obigen Artikels
    der ›Morning Post‹ aufs neue belebte.
    Als sie Miss Campbells Worte hörten, starrten sich die
    Brüder Sam und Sib mit großen Augen an.
    Bisher hatten sie ohne jenen Grünen Strahl gelebt und
    waren der Meinung, man könne auch leben, ohne ihn je-
    mals gesehen zu haben.
    Damit schien Helena freilich nicht übereinzustimmen,
    die den wichtigsten Schritt ihres Lebens der Beobachtung
    dieses immerhin seltsamen Phänomens unterzuordnen
    verlangte.
    »Ah, also das ist es, was man den Grünen Strahl nennt?«
    sagte Bruder Sam, leise den Kopf bewegend.
    »Ja«, erklärte Miss Campbell.
    »Der, den du auf jeden Fall sehen willst?« sagte Bruder
    Sib.»Und den ich, mit eurer Erlaubnis, liebe Onkel, sehen
    und, wenn es euch, wie ich erwarte, genehm ist, binnen
    recht kurzer Zeit sehen werde.«
    »Und dann, wenn du ihn gesehen hast?«
    »Wenn ich ihn gesehen habe, werden wir von Mr. Aristo-
    bulos Ursiclos sprechen können.«
    Die Brüder Sam und Sib warfen sich einen sinnigen Blick
    zu und lächelten einander verständnisinnig an.
    — 33 —
    »So wollen wir uns bemühen, den Grünen Strahl zu Ge-
    sicht zu bekommen«, sagte der eine.
    »Ohne nur einen Augenblick zu verlieren«, fügte der an-
    dere hinzu.
    Aber als sie schon das Fenster des Salons öffnen wollten,
    hinderte sie Miss Campbells Hand daran.
    »Man muß dazu warten, bis die Sonne untergeht«, sagte
    sie.»Also diesen Abend ...«, antwortete Bruder Sam.
    »Bis die Sonne am reinsten aller Horizonte verschwin-
    det«, fügte Miss Campbell hinzu.
    »Schön, dann werden wir nach dem Essen alle drei zur
    Rosenheatspitze wandern«, erklärte Bruder Sib.
    »Oder wir steigen einfach auf den Turm unseres Hau-
    ses«, meinte Bruder Sam.
    »An der Rosenheatspitze, wie auf dem Turm des Cot-
    tage«, wandte Miss Campbell ein, »erblicken wir keinen an-
    deren Horizont als den der Ufer des Clyde. Es heißt aber
    ausdrücklich, daß die Sonne an der Linie zwischen Himmel
    und Wasser beim Untergang ins Meer beobachtet werden
    solle. Daraus werden meine lieben Onkel die Notwendig-
    keit erkennen, mich so bald wie möglich unter diese einzig
    zweckentsprechenden Bedingungen zu versetzen!«
    Miss Campbell sprach so ernsthaft und begleitete ihre
    Wort mit einem so verführerischen Lächeln, daß die Brüder
    Melvill der Ausführung eines solchen Plans nicht zu wider-
    sprechen vermochten.
    — 34 —
    »Es eilt damit wohl nicht zu sehr?« glaubte doch Bruder
    Sam bemerken zu müssen.
    Und Bruder Sib zögerte nicht, ihm hilfreich beizusprin-
    gen mit den Worten:
    »Dazu werden wir immer Zeit haben . . .«
    Miss Campbell schüttelte neckisch den Kopf.
    »Nein, dazu werden wir nicht immer Zeit haben«, erwi-
    derte sie, »und im Gegenteil, die Sache eilt.«
    »Wäre es deshalb . . . vielleicht im Interesse von Mr. Aris-
    tobulos Ursiclos . . .«, sagte Bruder Sam.
    ». . . dessen Lebensglück, wie es scheint, von der Beob-
    achtung dieses Grünen Strahls abhängt«, setzte Bruder Sib
    seine Worte fort.
    »Zunächst, liebe Onkel, deshalb, weil wir uns schon im
    Monat August befinden«, antwortete Miss Campbell, »und
    es also nicht mehr lange dauern kann, bis die Nebel den
    Himmel Schottlands verdüstern; deshalb, weil es geraten
    scheint, die schönen Abende, die das Ende des Sommers
    und der Anfang des Herbstes noch in Aussicht stellen, zu
    nutzen. Wann reisen wir ab?«
    Wenn Miss Campbell freilich noch dieses Jahr mit aller
    Gewalt den Grünen Strahl kennenlernen wollte, war keine
    Zeit zu verlieren. Ohne nur einen Tag verstreichen zu las-
    sen, hatte man dann nichts weiter zu tun, als sich unver-
    züglich nach irgendeinem gegen Westen liegenden Punkt
    der schottischen Küste zu begeben, sich dort so bequem
    wie möglich einzurichten, jeden Abend den Sonnenunter-
    gang in Augenschein zu nehmen und endlich auf dessen al-
    — 35 —
    lerletzten Strahl zu achten. Dann gelang es Miss Campbell
    vielleicht, bei einigem Glück, ihren etwas phantastischen
    Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, wenn der Himmel die
    Beobachtung der Erscheinung begünstigte, was freilich un-
    gemein selten ist,

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