Der gute Liebhaber
zu reden davon, dass er sonst nie am helllichten Tag fernsah.
Er zappte von einem Sender zum anderen, Überschwemmungen hier, Vulkanausbrüche dort. In Brooklyn war ein Mann ermordet worden. Und eine frischgebackene Romanautorin, die Psychiaterin Doreen Ash, war heute Morgen in Manhattan gestorben, sie hatte sich das Leben genommen. Ihr erster Roman,
Der Gute Liebhaber
, war gestern erschienen und galt als bestsellerverdächtig. Das Urteil in der Kritik, soweit es sich zu diesem Zeitpunkt feststellen ließ, war gemischt – von überschwänglichem Lob bis hin zu totalem Verriss. Die Autorin war einundvierzig Jahre alt gewesen.
Karl Ástuson schaltete den Fernseher ab und trank seinen Kaffee aus. Er ging ins Musikzimmer und direkt zu dem Schrank, in dem er den alten Koffer aufbewahrte, mit dem er vor siebzehn Jahren nach New York gekommen war. Er entnahm ihm einen kleinen veilchenblauen Pullover, der einem einjährigen Säugling gepasst hätte. Er war in diesem Koffer mit dem ersten Umzugsgut aus Island gewesen und dort bis auf die wenigen Male verblieben, wo er ihn herausgeholt und in die Hände genommen hatte. Wie beispielsweise am ersten Abend mit Una auf Long Island, als er nicht einschlafen konnte. Er war ins Musikzimmer gegangen und hatte mit dem kleinen Pullover im Schoß dagesessen und ihm für das neugefundene Glück gedankt. Es war der Pullover von Ástamama, den sie in den letzten Wochen ihres Lebens für ein kleines Mädchen gestrickt hatte, dem er Grüße ausrichten sollte, wenn es so weit wäre.
Karl Ástuson drückte den Pullover an sich, legte ihn zurück in den Koffer und zog seine Joggingsachen an. Er sagte Una Bescheid, dass er ein oder zwei Stunden unterwegs sein würde. Dass Kaffee in der Thermoskanne bereitstand.
Kaum war er draußen auf dem Bürgersteig, warf er einen Blick auf die Uhr. Er wollte genau eine Stunde laufen, von Doreen Ash weglaufen. Sie hinter sich bringen, soweit das überhaupt möglich war. Die Frau war tot. Doreen Ash war tot. Sie hatte aufgehört zu existieren. Sie hatte sich das Leben genommen. Seine Lebensspenderin. Das war tragisch, unendlich tragisch. Aber der Sinn stand ihm nicht nach Weinen. Ihm stand eine Aufgabe bevor. Seine Zukunft mit Una hing davon ab, wie er sie bewerkstelligen würde.
Er rackerte sich in einer dafür vorgesehenen Stunde kräftig ab, und jeder Schritt brachte ihn dem Ziel näher, einen massiven und stabilen Zaun um das Doreen-Ash-Sperrgebiet zu errichten. Es ging nicht darum, zu vergessen, und zudem war es viel schwieriger, Tatsachen im Zusammenhang mit Toten zurechtzurücken als mit Lebenden. Keine Erinnerung konnte mehr hinzukommen, ein toter Mensch reagiert auf nichts mehr, er befindet sich in genau der Unveränderlichkeit, in die Ástamama mit einem Ja auf den Lippen eingegangen war.
Aber man konnte Erinnerungen und gedruckte Absonderlichkeiten über sich selber unschädlich machen; es war möglich, sie wie einen wild gewordenen Stier einzuzäunen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren solche Stiere seinerzeit in Island das Einzige gewesen, vor dem er Angst gehabt hatte – und jetzt hatte er eine panische Angst vor ihrer Nachfolgerin Doreen Ash. Diese eine Stunde wollte er darauf verwenden, Zaunpfähle um eine tote Frau einzurammen, die ihn nicht losließ; daran arbeitete er schweißüberströmt und wie besessen in der Mittagssonne auf Long Island, und er konzentrierte sich so sehr darauf, dass er beinahe von einem, wenn nicht sogar zwei Autos angefahren worden wäre.
Weshalb hatte sie das getan? Was hatte sie dazu getrieben, eben in dem Augenblick, als ein zukünftiger Bestseller herausgekommen war, jetzt, wo sie im Begriff war, die Früchte der Plackerei an diesem Buch zu ernten und sich im Licht des Erfolgs baden zu können so wie auf der Präsentation? Nicht einmal einem Hellseher wäre in den Sinn gekommen, dass diese Frau beabsichtigte, aus der Welt zu gehen. Und wie hatte sie das gemacht? Vielleicht konnten ihm die Zeitungen Antwort darauf geben. Aber nicht auf die Frage, weshalb, und auch nicht, weshalb sie es an dem Abend oder in der Nacht getan hatte, nachdem das Buch erschienen war.
Eines wusste er jedoch vielleicht, nämlich wann sie sich dazu entschlossen hatte. Wer den Schritt tut, die Welt aus freien Stücken zu verlassen, muss ihn bereits vorher erwogen haben; irgendwann kommt dann der Wendepunkt, von dem aus man nicht mehr zurückkann. Und dieser Wendepunkt war, als er zu ihr gesagt hatte:
So schön wie nie.
Dass
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