Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
für Tag von Nutzen ist, die Geschichte dagegen – wer will die schon? Darüber hinaus auch noch die Geschichte der Klientin, die menschlich ist, schmerzhafte Elemente enthält, Anteile von Niederlage und Katastrophe. Selbstverständlich wird sie versuchen, sich davon zu distanzieren und auch andere auf Armeslänge von sich abzuhalten, aus Selbstschutz oder aus Mitleid oder ihrer guten Manieren wegen. Und das ist die Aufgabe des Alibis: verleugnen, ablenken und verbergen und damit das Leben für die Klientin und die Menschen in ihrer Umgebung erträglicher machen. Also wird Ihre Aufgabe in der Therapie letztlich darin bestehen, die Klientin von ihrem Alibi zu ihrer Geschichte hinzuführen; von der Überschrift hin zum eigentlichen Geschehen. Doch zunächst erlaubt das Alibi der Klientin auch, Sie zu testen.«
»Was zu testen?«, fragt das pinkhaarige Mädchen.
»Zwei Dinge: Ob Sie ihr das Alibi abnehmen, dann sind Sie nutzlos, oder ob Sie, wenn Sie sich weigern, es ihr abzunehmen, es der Klientin übel nehmen, dass sie es Ihnen aufgetischt hat, dann sind Sie gefährlich.«
»Sie sind zynisch«, sagt Jennifer.
»Nicht unbedingt. Vielleicht klarsichtig. Das Erste, was ein Klient erzählt, ist im Kern immer eine Lüge, immer unpräzise. Und das sage ich nicht, um den Klienten zu verunglimpfen. Die Wahrheit zu verzerren und zu verschleiern ist schließlich eine maßgebliche Fähigkeit zur Lebensbewältigung. Und so bedeutet die Suche nach der Wahrheit im Kontext einer Therapie nicht, dass die Lüge verworfen würde, einen Makel darstellte oder man sie loswerden müsste, sondern vielmehr eine tiefere Akzeptanz und ein tieferes Verständnis, welches die Lüge mit einschließt. Eine Therapie ist keine Reise von der Lüge zur Wahrheit, von der Dunkelheit ins Licht, sondern ein Versuch, zwischen den beiden das richtige Gleichgewicht zu finden. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Wert der Lüge und ihrer Anwendungen zu begreifen.«
»Anwendungen?«, sagt das pinkhaarige Mädchen.
»Die Lüge ist einerseits das Schmierfett im Räderwerk der sozialen Existenz«, sagt er, »wo starke Reibungen entstehen und hohe Brandgefahr herrscht. Sagen wir einmal, ich gehe die Straße entlang und treffe zufällig einen Bekannten. Wir lassen uns auf einen wohlbekannten Tanz ein. Ich frage: Wie geht es dir? Er wird sagen: Mir geht ’s gut. Ich sage: Lange nicht gesehen. Er wird sagen: Ich rufe dich an. Und wir verabschieden uns. Ein wohlbekannter Tanz – und was liegt ihm zugrunde?«
»Gute Manieren«, sagt das pinkhaarige Mädchen.
»Worin bestehen diese Manieren?«
»Aus Lügen«, antwortet sie ein wenig angestrengt.
»Natürlich. Mich interessiert nicht wirklich, wie es ihm geht; und ihm geht es nicht notwendigerweise wirklich gut, und wir beide wissen, dass er nicht anrufen wird. Trotzdem bringen wir beide diesen wohlbekannten Tanz hinter uns, der so sinnentleert ist und doch so wichtig für den Erhalt des sozialen Friedens. Die nackte Wahrheit, genau wie der nackte Körper, ist eine erschreckende, befrachtete Präsenz und muss deswegen im Allgemeinen verhüllt werden. Aus diesem Grund werden Sie Ihren Kindern später beibringen, Kleider überzuziehen und nachzudenken, bevor sie etwas sagen.«
Er hält inne und blickt sich um: »Die Lüge, wie sich herausstellt, ist kein Virus in der Software, sondern eine Eigenschaft der Hardware. Und ein guter Psychologe muss sie kennenlernen, wissen, wie sie funktioniert.«
Der Junge mit der Krawatte hebt die Hand. »Bei allem nötigen Respekt«, sagt er streng, »ich höre Ihre Erklärungen, denke persönlich aber, dass es einen anderen Weg gibt, den Weg der Wahrheit, und ich wähle diesen Weg, in den Fußstapfen meines Erlösers.«
Der Psychologe wendet sich ihm zu. »Sehen Sie sich um«, sagt er ruhig, »so viele Erlöser und so wenig Erlösung.«
22
A m Ende des Unterrichts rafft er seine Papiere zusammen, klemmt sie sich unter den Arm und tritt hinaus in den frostkalten Abend. Die Straßenlaternen beleuchten seinen Weg zum Parkplatz. Schneeflocken wirbeln um ihn herum, schweben ziellos dahin, wie zerstreut. Der Campus liegt verschlafen und still da. Der Psychologe schlängelt sich zwischen den parkenden Autos zu seinem eigenen durch, stapft durch den tiefer werdenden Schnee. Er zieht mit den Zähnen den rechten Handschuh aus, durchsucht seine Taschen nach dem Schlüssel und beugt sich zur Tür, öffnet sie quietschend, setzt sich mit einem Ächzen und schickt weiße Atemwolken
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