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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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war übergelaufen, hatte sich über den Petroleumkocher ergossen und stank –, sie riss die Decke weg, und ich sah, dass sie unter dem Sarafan nichts hatte als schwarzes Haar, und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte noch eine rosa Wunde auf – ich erstarrte auf meinem Sandhaufen, wie vor den Kopf geschlagen, den Kesselwagen in der Hand.
    Unter den wehrlosen Reifen des SIM knirschten jetzt die Splitter. In der Sommerfrische trug Onkel Slawa immer einen hellen Anzug, ohne Krawatte, und einen hellen Hut. Er liebte es, seine Kreise zu ziehen, er entfernte sich niemals weit vom Sommerhaus. Und immer hatte er seinen Stock dabei. Einen einfachen Stock mit einfachem Knauf. Er war unbiegsam und unverwüstlich wie ein Panzerschränkchen. Die Sommerfrischler machten kehrt, wenn sie Onkel Slawa von weitem sahen, und diejenigen, die ihm begegneten, gingen vorüber, ohne den Blick zu heben. Bratwurst mit Makkaroni. Das Lieblingsabendessen. Aber wenn man sich an Wurst überfrisst, kriegt man Sodbrennen. Ich quälte mich mit Sodbrennen und Einsamkeit. Das Abendessen endete mit Krach und dünnem Tee. Oma ließ mich nicht Transistorradio hören. Sie glaubte, das Transistorradio gehe davon kaputt, wenn man es hörte. Zu jener Zeit war das Transistorradio eine überwältigende, für die einheimische Bevölkerung unerklärliche Neuheit. Oma wickelte das Transistorradio in einen Lappen und versteckte es im Schrank. Es war ein beeindruckender Kasten, knallrot mit einem weißen Plastikgriff, aus unbekannten Gründen ein norwegisches Modell. Als ich einmal heimlich den Kasten mit an den großen Teich nahm, waren die Ortsansässigen regelrecht aus dem Häuschen. Sie umringten mich, neugierig und misstrauisch, und in ihren Gesichtern stand geschrieben, dass man sie nicht hinters Licht führen könne: Ein Radio kann nicht ohne Kabel spielen, einfach so von selber. Mit dem Transistorradio am Teich fühlte ich mich wie ein junger unverstandener Gott. Papa hat’s mir erlaubt, sagte ich. »Na und, wenn schon«, sagte Oma. »Du machst alles kaputt, und das machst du auch kaputt.« Alles im Leben wickelte sie in Windeln: Meine Fahrradlampe bewahrte sie auch in einem Lappen auf. Papa hat’s erlaubt! Ich geb’s nicht her! Doch, tust du doch! Sie trieb mich bis zu Tränen, und dann verzog sie sich und trug das Transistorradio mit dem unglücklichen Gesichtsausdruck einer gekränkten Bulldogge fort. Und ich lief in den Garten: Er war voller Tau und ich voller Tränen. Wenn man Tränen vergossen hatte, schien die Welt noch schöner.
    Onkel Slawa und ich trafen uns jeden Abend gegen neun auf der Grenzbank unter der hohen Birke. Oma näherte sich uns nie und hörte nicht, was wir hörten. Sie runzelte nur die Stirn: »Was willst du von dem?« Aber sie respektierte es.
    Ich kam immer als Erster und war aufgeregt, ob er vielleicht nicht käme. Onkel Slawa kam eine halbe Minute später. Auf dem Einunddreißigmeterband fischte ich hin und wieder Pausenzeichen aus dem Radiochaos heraus. In der Regel brachten sie zunächst die Nachrichtenübersicht, danach die ausführlichen Meldungen. Onkel Slawa legte die Handflächen auf den Knauf seines Stocks, auf die Hände legte er das Kinn – Schnurrbart, Zwicker und Hut ruhten und störten nicht. Wir waren ganz Ohr.
    Die Stimme war ständig nahe daran abzutauchen, und man musste sie immer wieder neu zu fassen kriegen. Es wurde gestört. Bis 63 , wenn ich mich nicht irre. Man ließ uns irgendwelche nebensächlichen Meldungen hören, doch sobald es um uns oder Berlin ging, wurde auf Befehl von irgendwem gestört, und etwas zu verstehen war nahezu unmöglich. Aber ein klein bisschen war eben doch möglich, und Onkel Slawa ging niemals weg, und Oma sprang wieder und wieder von der Liege auf, und des Nachts stand sie an meinem Kopfende: erwürgen oder nicht erwürgen? Onkel Slawa ging niemals weg, wenn sie anfingen zu stören, niemals räusperte er sich oder brachte seinen Ärger oder seine Unzufriedenheit zum Ausdruck; er nahm die Störungen wie eine unvermeidliche Naturerscheinung hin. Er blieb gelassen, saß da und wartete, bis ich jenen Zwischenbereich gefunden hatte, wo man halbwegs hören konnte. Er war schweigsam, aber immer freundlich, von Anfang an war er freundlich gewesen, und obwohl er friedlich und unerschütterlich dasaß, verließ mich nie das beunruhigende Gefühl, er sei hier ein zufälliger Gast: Da setzte er sich nun zu einem Jungen auf die Bank, jener drehte am Radio, und zufällig hörte er

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