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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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»Wie alt bist du?«
    »Ich gehe in die fünfte Klasse.«
    »Dann komm in drei Jahren wieder.« Sie unterschrieb den Kassenbon, gab ihn der Kassiererin und drückte mir vierzig Kopeken in die Hand.
    Borja, das muss ich ihm lassen, machte mich am nächsten Tag zu einem Helden: Er erzählte, dass ich in die Apotheke gegangen sei, um ein Kondom zu kaufen. Unsere Klassenkameraden sahen mich mit Hochachtung an, die Mädchen kicherten wohlwollend und berührten wie zufällig zärtlich meine Hand.
    »Also, da du schon mal ein Kondom kaufen warst«, sagte Iljuscha Tretjakow, »brauchst du ja jetzt vor gar nichts mehr Angst zu haben. Gehen wir!«
    Ich konnte nicht mehr nein sagen. Aber ich zögerte es hinaus und ging erst im Winter mit, als ich bereits in der sechsten Klasse war.
    Das Lustvollste daran – es war die reinste Theateraufführung. Die Frauen boten auf ihrer Banja-Bühne eine Szene aus dem Leben. Sie wuschen sich, rieben sich gegenseitig mit Waschlappen ab, übergossen sich aus Kübeln, unterhielten sich oder saßen nachdenklich da. Sie lebten ein von dem langen Iljuscha Tretjakow und mir völlig getrenntes Leben und waren dabei einfach köstlich: die eine wie Erdbeeren, eine andere wie schwarze Johannisbeeren, und sogar die alten Vanille-Frauen waren köstlich. In meinem entzückten Voyeurismus fand ich, dass Frauen jeden Alters schön seien (jedenfalls von weitem). Dort waren auch unsere Klassenkameradinnen, die, wie sich herausstellte, bereits Haare auf ihrem Schamhügel hatten, mit ihren Müttern und ihren Großmüttern. Einige blickten tatsächlich zu den Fenstern herüber, hinter denen Iljuscha und ich nicht zu sehen waren, und schienen sich in interessanten Posen präsentieren zu wollen.
    Ich spähte mal mit dem einen, dann mit dem anderen Auge, und vor lauter Anspannung bekam ich eine Wimper ins Auge (was in diesem Alter ständig passiert). Ich rieb das tränende Auge, möglicherweise, weil es so wehtat, vielleicht aber auch, weil ich so überreizt war, aber ich erinnere mich genau an den Moment, als das Bild in der Banja sich veränderte. Die Lüftungsklappe schlug zu. Und ich sah statt des friedlichen Bildes weiblicher Waschungen eine Art Sündenfall weiblichen Fleisches. Zuerst entschwanden die Mädchen mit ihren frisch bewachsenen Schamhügeln irgendwohin, und an ihre Stelle traten die ungeheuerlichen Gestalten verfetteter Weiber mit Hängebäuchen bis zum Knie, Titten, die aussahen wie mittelasiatische Melonen vom Markt, und Klappergestelle von Greisinnen. Ich dachte in diesem Moment nicht über die Vergänglichkeit weiblicher Schönheit nach; ich fühlte plötzlich, wie in der Banja der Tod erschien. Er kam in einer Gummischürze auf dem nackten Körper, mit entblößtem Hintern, und sah aus wie die Banja-Wärterin.
    Ich wandte mich zu Tretjakow um, aber auf einmal stürzte sich ein Milizionär aus dem Hinterhalt auf uns. Tretjakow stand näher zu ihm. Der Milizionär packte seine Pelzmütze mit den Ohrenklappen und riss sie ihm vom Kopf. Dieser Überfall hatte etwas äußerst Deprimierendes, Fieses, Gemeines und mit Gerechtigkeit Unvereinbares. Meine erste Liebe zur Gerechtigkeit war übrigens mit einem Fahrrad verbunden. Meine Eltern hatten mir aus Paris ein rotes Fahrrad mit Scheinwerfer und tollen Bremshebeln an der Lenkstange mitgebracht – es war einfach ein Wunderding. Ich fuhr damit die Uspenskoje-Chaussee entlang, nicht weit von unserer Datscha. Ein Milizionär hielt mich an: Hier darf man nicht Fahrrad fahren. Er tat etwas sehr Niederträchtiges – er ließ nicht nur die Luft aus den Reifen meines Pariser Fahrrads, sondern warf auch noch die Ventile weg. Daran war etwas extrem Banditenhaftes, etwas aus einem anderen Leben. Während er mich quälte, fuhr noch ein Fahrradfahrer vorbei. Den hielt er nicht an.
    »Warum halten Sie den denn nicht an, wo er doch auch gegen die Bestimmungen verstößt?«, fragte ich mit hämmerndem Herzen.
    »Gerechtigkeit kannst du zu Hause suchen, bei deiner Mama«, sagte der Milizionär – im Sowjetland war jeder Milizionär ein Bote des Gulag.
    Die Antwort, die für ihn nichts bedeutete, zeigte mir plötzlich, wie tief mein Land gefallen war. Ich wurde für einige Jahre zum Moralisten. Ich entlarvte die Ungerechtigkeit an allen Ecken und Enden.
    Tretjakow ging gehorsam mit zur Milizstation, um seine Mütze zurückzubekommen. Tretjakow führte man ab, und mich, betäubt von dem Überfall der Miliz, ließ man allein zurück. Seine Mutter wurde aufs Revier

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