Der gute Stalin
dir. Guck mal, niemand grüßt ihn. Und morgens wachst du auf: Sonne, Wärme – sie hat es nicht getan. Barfuß läufst du los, um dich zu waschen.
Unsere Bekanntschaft unterlag also von Anfang an einem Verdikt. Oma hatte schon früh begonnen, mir Angst vor Männern einzujagen. Er lockt dich mit einem Bonbon in den Wald, dann zieht er dich aus – und Schluss! Ängstlich stellte ich mir einen schrecklichen Mann vor, der sommerliche Kinderkleider und kleine Sandalen in einen Sack stopft und verschwindet, das Fallholz knackt unter seinen sich entfernenden Schritten, mich überlässt er nackt im Wald meinem Schicksal, mit einem Bonbonpapier in der Hand. Ich schwor ihr, dass ich niemandem trauen würde, sie strich mir mit rauer Hand über den Kopf, und manchmal scheint mir, ich hätte diesen Schwur gehalten.
Außer mit Oma stand ich noch mit dem streunenden Kater auf Kriegsfuß. Den Müll brachten Onkel Slawa und wir an dieselbe Stelle, zu einer großen stinkenden Grube. Onkel Slawa – so wagte ich ihn schon im August zu nennen, als die Sternschnuppen fielen und wir nebeneinander auf der Bank mit der großzügig geschwungenen Rückenlehne saßen, abgelenkt von unserer Hauptbeschäftigung, und uns im Stillen etwas wünschten –, da ist noch eine, sagte ich, und da noch eine! Ich wünschte mir, er möge mich umarmen, mich an sich drücken. Ja, viele sind es heute, meinte auf einmal Onkel Slawa mit einem schmerzlichen Unterton in der Stimme. Er fuhr fast nie weg vom Sommerhaus, lebte dort friedlich, und jede Fahrt nach Moskau kränkte mich tief.
Ein schwarzer, ziemlich alter SIM fuhr am Sommerhaus vor, der Kofferraum, klein wie ein Nagelnecessaire, öffnete sich, der Chauffeur bewegte sich ein wenig träge hierhin und dorthin, es erschienen die weiblichen Hausgeister – er kam heraus in einem tadellosen dunklen Anzug, mit dunkler Krawatte und dunklem Hut. Exakt in jeder Bewegung, korrekt und ein kleines bisschen verwirrt, duckte er sich und tauchte in den SIM ein, ließ sich ohne Eile in den Rücksitz fallen, welcher demütigenderweise, damit er ihn nicht beschmutzte, einen dunkelroten Plüschüberzug hatte. Ich erinnere mich an den Geruch des graublauen Qualms aus dem Auspuffrohr des SIM . Der Geruch unserer Trennung. Wenn er an dem mageren Halbwüchsigen mit dem großen verlegenen Mund vorbeifuhr, hob und senkte er den Arm, der auf den Ellenbogen gestützt war. Für eine Sekunde zeichnete sich auf seinem Gesicht ein verschwommenes, väterliches, schmerzliches Lächeln ab. Auch ich warf den Arm zum Abschiedsgruß in die Höhe, stand lange am Wegesrand und spürte, wie die Erde, die sich drehte, die Reifen seines Wagens bewegte.
Irgendwann war irgendeinem Glaser auf dem Weg eine große Glasscheibe zu Bruch gegangen, und die Splitter lagen da und blitzten in der Sonne wie hundert von Onkel Slawas Zwickern, und meine Oma, deren Mann, das heißt mein verstorbener Großvater und Buchhalter bei der Eisenbahn, auch sein ganzes Leben einen Zwicker getragen hatte, sagte wohlwollend, dass ein Zwicker einen Mann kleide. Und wischte sich auf Witwenart eine Träne weg. Wenn sie schlechter Stimmung war, sagte sie, ich hätte Großvater auf dem Gewissen, denn ich hätte ihn mit meinen Launen gequält und immer gezwungen, mich auf dem Arm herumzutragen, wovon er einen Infarkt bekommen habe und schrecklich früh und zur Unzeit gestorben sei, noch bevor er – die Augen der Großmutter wurden träumerisch – den bereits versprochenen Lenin-Orden bekommen habe, oder sie sagte, ich sei undankbar, denn wie könne man Großvater nur vergessen, der für mich so viel Gutes getan habe, und wie hat er sich um dich gekümmert im Sommerhaus in Rasdory, Pfeifen hat er geschnitzt, und auf den Knien ist er gerutscht beim Autospielen, und einmal habe ich ihn plötzlich gesehen: in einem weiten Pyjama und in einem vollkommen idiotischen mittelasiatischen Käppchen, und leider ohne Orden, wie er einen braun-gelben O-Bus hin und her schob. »Es ist schön, Milizionär zu sein«, sagte Großvater kurzatmig und blinzelte mir zu. »Man kann immer so mit der Kelle hierhin und dorthin winken.«
»Eeessen!«, schrie Oma.
Früher hätte man dem Glaser diese Splitter zu essen gegeben. Nach dem Mittagessen machte Oma ein Schläfchen auf der Liege im Garten, in ihrem dunkelblauen Kattunsarafan, eine Decke über die Beine geworfen, und ich saß auf dem Sandhaufen und ließ den Kesselwagen die Schienen runterfahren – plötzlich fuhr Oma hoch – die Milch
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