Der gute Stalin
kommen da keine Bakterien rein?« – »Ach was, Bakterien! So. Genau. Na los, nur keine Angst, du Knöspchen!« Er hat mit mir zusammen antisowjetische Propaganda gehört, dachte ich kalt. Der Kommunismus ist unausweichlich. Vater schlug mir zornentbrannt ins Gesicht. Onkel Slawa wurde kurz vor seinem Tod wieder in die Partei aufgenommen.
*
Gegenüber meiner Schule Nr. 122 gab es Kino umsonst. Man guckte im Stehen, wer nicht groß genug war, auf Zehenspitzen. Man guckte gewöhnlich allein, aber manchmal auch im Gedränge, sich gegenseitig knuffend. Im Winter guckte man im Schnee stehend, der eine knirschende Eiskruste hatte, auf der man ausrutschte und mit einer Papirossa zwischen den Zähnen hinfiel. Schlechtes Schuhwerk quoll auf, die Socken wurden nass, die Füße froren ein und zwickten dann lange auf russische Art, wenn man wieder im warmen Zimmer war. Dieses Zwicken von auftauenden Füßen ist ein sich ständig wiederholendes Motiv meiner Kindheit.
In dem Kino konnte man vom Hof aus, besonders in der Dämmerung, eine große Anzahl nackter Frauen sehen. Die Scheiben waren aus Mattglas, aber nicht von innen angestrichen, sondern von außen, mit weißer Farbe. An verschiedenen Stellen hatten die Kerle sie mit den Fingernägeln abgekratzt. Einige Löchlein waren größer – die hatten die Frauen von innen mit nassen Papierfetzchen zugeklebt, denn sie ahnten, wofür sie gut waren. Aber die kleinen waren nicht zugeklebt. Iljuscha Tretjakow erzählte, dass sich einmal ein Fenster geöffnet und jemand einen Kübel kochend heißes Wasser über den Männern ausgekippt habe. Es gab viel Männergefluche und Frauengekreische. Aber wenn man diesen Vorfall außer Acht lässt, sagte Tretjakow, dann haben sich die Frauen wohl damit abgefunden, dass sie heimlich beobachtet werden, und manchmal nehmen sie sogar bestimmte Posen ein.
Ich wollte lange nicht mitgehen zu diesem Männer-Kino, das er sich beinahe jeden Tag ansah. Ich war in meiner Entwicklung etwas hinter meinen Altersgenossen zurückgeblieben, obwohl ich so tat, als ob ich ihnen ebenbürtig sei. Ich stolperte über den Namen eines Fußballers. In der Klasse machten sich alle über den bekannten Fußballer Malofejew lustig. Ich hatte keine Ahnung, dass man bei diesem Namen an »malofja«, »Sperma«, denken musste, und ich geriet in die Bredouille.
»Ich kenne mich nicht so gut aus mit Fußball«, brummte ich.
Ich war nur einmal mit Papa bei einem Fußballspiel gewesen, und zwar während der Maifeiertage im »Dynamo«-Stadion, wo zur Saisoneröffnung »Dynamo« gegen »Spartak« spielte. Wir sahen uns die erste Halbzeit an, die unentschieden ausging, und verließen das Stadion, enttäuscht von diesem seltsamen und langweiligen Spiel.
»Wieso Fußball?«, wunderten sich meine Klassenkameraden.
Plötzlich begriffen sie, was los war, und lachten so laut und verächtlich, dass ich noch lange vor dem Einschlafen von diesem Gelächter gepeinigt wurde. Ich war zu spät dran bei der kindlichen Verteilung von Obszönvokabular. Erst später lernte ich es wie eine Fremdsprache. Aber ich hatte zwei treue Freunde, Borja Minkow und Iljuscha Tretjakow, die sich entschlossen, mich einzuweihen.
»Du weißt bestimmt auch nicht, was ein Kondom ist, oder?«, fragte Borja.
»Na ja, ich kann es mir vorstellen«, log ich.
»Und wo wird es verkauft?«
»Weiß ich nicht.«
»Komm mit, ich zeig’s dir«, sagte mein Freund.
Jeder russische Junge kann eine Geschichte erzählen, die mit Kondomen zu tun hat. Das Kondom ist der Luftballon der russischen Kindheit. Wir gingen in eine Apotheke auf der Gorki-Straße, die nach Baldrian roch (wie alle sowjetischen Frauen von innen), und Borja sagte, man müsse zuerst an der Kasse vierzig Kopeken bezahlen. Ich kramte zwei Zwanzigkopekenstücke aus der Hosentasche, bezahlte und trat mit dem Kassenbon in der Hand an den Schalter, wo Medikamente ohne Rezept verkauft wurden. Borja hielt sich etwas abseits.
»Geben Sie mir bitte ein Kondom!«, sagte ich zu der jungen Apothekerin in weißem Kittel und weißer Haube. Sie nahm den Kassenbon, sah mich schräg an und lief in den hinteren Teil der Apotheke. Nach einiger Zeit erschien eine dicke Tante in der Seitentür, ebenfalls in weißem Kittel.
»Warst du das, der ein Präservativ verlangt hat?«, fragte sie und sah mich streng an.
»Nein«, sagte ich, »ich brauche ein Kondom.«
»Wozu?«
»Für eine wichtige Angelegenheit.«
»Für eine wichtige Angelegenheit?«, staunte die Apothekerin.
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