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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Kreml-Krankenhauses und war verblüfft, was für eine flammende Revolutionärin sie war. Morgens hörte die Shemtschushina immer Nachrichtensendungen über Kopfhörer und las, den Bleistift in der Hand, alle wichtigen Zeitungen. Sie schien auf diese Weise den Tod fern halten zu wollen. Die beiden kranken Frauen kamen auf Fjodor Raskolnikow zu sprechen, den sowjetischen Botschafter in Bulgarien während der Zeit der Säuberungen. Raskolnikow war bekanntlich der Enkel eines Mannes, der einem berühmten Buch entstiegen war. (Das passiert manchmal in Russland und wird von Daniil Andrejew bestätigt.) Als er eine Liste der Bücher von »Volksfeinden« bekam, die aus der Bibliothek entfernt werden sollten, beschloss er, nicht mehr nach Russland zurückzukehren. Die Menschwerdung des Helden wurde unterbrochen, als der KGB seinen Enkel einige Zeit später aus einem Pariser Fenster stieß. Die Shemtschushina sagte:
    »Besser in der sozialistischen Heimat sterben als in einem kapitalistischen Land leben.«
    Die beiden Frauen diskutierten feindselig miteinander, ohne eine gemeinsame Sprache zu finden. Die an Leberkrebs sterbende Shemtschushina nannte Stalin liebevoll Jossif. Molotow besuchte sie jeden Tag. Polina Shemtschushina hatte Recht. Stalin war der einzige Garant für den Kommunismus in Russland.
    Wie viel Jauche auch über ihm ausgegossen wurde, er lebt. Er lebt, obwohl seine nächste Umgebung ihn vernichtet hat. Er lebt ungeachtet des XX. Parteitages. Er ist aus der Hölle auferstanden, ungeachtet dessen, dass derselbe russische Mystiker Daniil Andrejew ihn in der Rose der Welt auf dem Grund der Hölle gekreuzigt hat. Er lebt ungeachtet der Perestroika. Er ist an die Oberfläche gekommen wie ein Ertrunkener. Er ist an die Oberfläche gekommen und auferstanden. Auf magischen Totalitarismus steht stalinsches Copyright. Stalingrad wird schließlich seinen Namen tragen. Stalin muss nicht rehabilitiert werden, weil er bereits rehabilitiert ist. Im russischen Volkscharakter gibt es so einen Aspekt: Der Russe findet nicht die Kraft, sich den Stalinschen Qualitäten zu widersetzen. Der russische Volkscharakter wirft sich vor Stalin zu Boden. Er vergöttert Stalins Humor. Er vergöttert Stalins Heimtücke. Er vergöttert Stalins Grausamkeit. Der russische Volkscharakter wartet auf die Strafe für seine Unordnung. Stalin wird kommen und ihn bestrafen. Nur Stalin kann der russischen Volksunordnung Einhalt gebieten. Je weiter Stalins Opfer in die Vergangenheit rücken, desto stärker und strahlender wird Stalin. Die Opfer sind Wölkchen der Zeit. Lüstern sehen sich die Russen Filme über Stalin an, hören Witze über Stalin. Stalin geht im Kreml die Treppe hinunter, ihm entgegen stürmt ein Usbeke in asiatischer Tracht mit Blumen in der Hand. Stalin hat sogar einen Usbeken glücklich gemacht.
    Ein echter Gott wie Stalin ist gnadenlos. Er verlangt unter Androhung ewiger Folter, dass sein Vermächtnis erfüllt wird (aber sogar dies umgehen die Menschen: es reicht weder Glaube noch Mut). Stalins Auferstehung wird eine permanente sein wie Trotzkis permanente Revolution. Jeder Vorgesetzte in Russland arbeitet à la Stalin. Er hat keine stalinschen Maßstäbe, aber er hat stalinsche Prinzipien. Ob Chef eines Unternehmens, einer Gesellschaft, einer Bank, eines Verlages, der Regierung oder sogar Vorsteher einer kleinen Bahnstation – alle strahlen die stalinsche Idee aus. Die Energie des europäischen Liberalismus ist in Russland zu schwach, um andere Führungsformen zu reproduzieren oder gar zu entwickeln. Jeder Regent in Russland stellt sich unwillkürlich auf die Stalin-Welle ein. Stalin wird unwillkürlich zum Ideal.
    »Warum sollte ich Vitja ersäufen?«, dachte Mama über Dostojewskis Worte nach.
    Lenin war niemals ein Gott. Er war Großpapa Lenin für die Kinder und der große Revolutionär für die Erwachsenen. Seine theoretische Tätigkeit 1917 war genial in ihrem revolutionären Geist und revolutionär in ihrer Genialität. Der sie krönende Oktober-Umsturz verdient nur ihretwegen den Namen Revolution. Dass die immer gleichen Ziele jeder Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – grundsätzlich unerreichbar sind, das steht auf einem anderen Blatt. Man muss entweder einen Rückzieher machen oder die Grenzen der menschlichen Natur überschreiten. Stalin war ein mittelmäßiger, wenn auch standhafter Revolutionär. Aber sein Lebenswerk war nicht die Revolution, sondern das Überschreiten der Grenzen der menschlichen

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