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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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das, was man nicht hören durfte, und der alte Konspirator war ja nicht schuld daran, da aber dieses Zufällige zufällig jeden Abend geschah, Abend für Abend, spielte er diese scheinbare Zufälligkeit nicht vor mir, sondern vor der ganzen Welt, die nicht existierte. Die Bank war taub und gehörte nur uns, und in diesen Minuten waren wir allein im Universum, er und ich, schweigsame Verschwörer, die etwas Unerlaubtes hörten, beide gleich im Unrecht, der Pionier und der Pensionär, die sich beide in eine illegale Lage begeben hatten, aus irgendeinem Grunde aber einander nicht verraten würden. Und das brachte uns natürlich näher, und von Abend zu Abend wurde er mir gegenüber gütiger, ich war nicht mehr einfach der kleine Junge, ich bekam einen Namen, mit undeutlichen Gesten gab er mir zu verstehen, dass er nicht böse auf mich sei, dass man nichts hören konnte, und ich verlor allmählich das Gefühl der Peinlichkeit, dass ich neben ihm saß und nicht immer erfolgreich mit den Störungen zurechtkam. Nach dem Mittagessen machte Oma im Garten ihr Schläfchen auf der Liege, und plötzlich – die Milch! Mit diesen Milchergüssen und mit Onkel Slawa als ständigem Hörer verlebte ich den ganzen Sommer, Kommentare hörte er sich selten an, nach den Meldungen erhob er sich leise und ging weg, und bloß einmal hörten wir in den Meldungen Onkel Slawas Namen, als gesagt wurde – ich erinnere mich genau –, dass die Studenten der Universität von Beirut die Polizei mit Cocktails beworfen hätten, die Onkel Slawa zu Ehren so hießen wie er. Die Stimme Amerikas war für mich keine geringere Offenbarung als das schwarze Haar unter dem Sarafan, und ich blickte Onkel Slawa verstohlen an: Wie reagierte er auf seinen Namen? Zeig eine Reaktion! Nichts.
    Er fragte mich nie nach irgendetwas aus, stellte keine herablassenden Fragen, auch ich fragte ihn nie nach irgendwas. Aber ich erinnerte mich, wie Vater, das war vor einigen Jahren in Sotschi, gerade aus dem Meer kam, und plötzlich – alle Leute rannten zum Lautsprecher hin – wurde verkündet: Sie sind entlarvt. Sie alle. Ich erinnerte mich, wie verdrossen meine Eltern waren, besonders verdrossen war Papa in seiner Badehose. Neben mir – ich hätte mir so gewünscht, zärtlich miteinander zu sein, Luftschlangen steigen zu lassen, übers Feld zu laufen und einander zu küssen – saß der Schöpfer des mir unbekannten Cocktails, und Oma machte große Wäsche, und wie immer an solch einem Tag war ich auf mich selbst gestellt, und ich stahl aus dem Schrank das, was mir zu nehmen kategorisch verboten war: das väterliche Luftgewehr mit den kleinen Kugeln, und ich rannte zur Müllgrube, um den Kater abzuknallen. Der Kater ließ sich dort nicht blicken, und ich saß lange an der stinkenden Müllgrube auf der Lauer, bis ich die Nase voll hatte. Als ich die Nase voll hatte, lief ich mit dem Luftgewehr in den Wald und erwies mich als guter Schütze. An jenem Tag der großen Wäsche erschoss ich viele Krähen, Bachstelzen, Meisen und andere mir unbekannte Piepmätze. Mir gefiel es, wie sie wie kleine Papiersäckchen zur Erde fielen. Auf dem Heimweg schoss ich einen schönen Specht ab, er fiel mir geradewegs vor die Füße, und er tat mir überhaupt nicht Leid. Dann lief ich wieder zur Müllgrube, und als der Ruf »Eeessen!« an mein Ohr drang, erblickte ich den schmächtigen grauen Kater, der gerade in der Grube beschäftigt war. Der Kater wollte sich aus dem Staub machen, aber ich rief ihn mit tückischer Stimme: »Miez-miez.« Er blinzelte, argwöhnte eine Falle, genauso wie die Ortsansässigen in einem Radio ohne Kabel eine Falle vermuteten. Ich legte meine ganze Zärtlichkeit in das folgende Miez-miez. Der Kater zögerte. Ich hob vorsichtig den Lauf des Luftgewehrs und zielte mit freundlichem Gesichtsausdruck. Der Kater stand unentschlossen da. Ich schoss ihm in die Stirn. Er fauchte ein herzzerreißendes Fauchen und warf sich ins Gras. Zitternd vor Erregung, lud ich das Gewehr nach.
    »Eeessen!«
    Den Kater habe ich nie wieder gesehen. Onkel Slawa reiste auch bald ab. Irgendwer trug meinem Vater zu, ich sei mit dem Luftgewehr herumgerannt und hätte alles, was lebte, abgeknallt. Was es doch für Schweine gibt. Ich gab zu, ohne Erlaubnis das Gewehr genommen zu haben, und weinte, bat um Gnade. Vor dem Einschlafen hatte ich wegen der rosa Wunde einen leisen süßen Druck untenrum. »Wie man es macht?«, fragte Onkel Slawa verwundert. »Guck mal. Man nimmt die Haut …« – »Aber

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