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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Natur mit dem ganzen Land, dem ganzen Volk.
    Die menschliche Natur ist nicht imstande, dies zu akzeptieren. Aber der Russe ist innerlich bereit, aus der menschlichen Natur herauszutreten. Er ist durchtrainiert. Er trinkt Wodka – und tritt heraus. Die ganze Bevölkerung der Sowjetunion entsprach nicht den Vorstellungen vom idealen Bürger, darum war jeder ein Feind des Volkes, und jeder fühlte sich insgeheim als solcher. Gesetz ist gleich Ungesetzlichkeit, Recht gleich Rechtlosigkeit, Leben gleich Tod. Um großer Ziele willen, die unerreichbar waren, haben wir Millionen Menschen vernichtet. Wir haben die Schwerkraft der gewöhnlichen Moral überwunden, die Grenzen der menschlichen Werte überschritten.
    Wir verließen langsam (wie auf Brüllows Bild Der letzte Tag von Pompeji ) und gebeugt die höfliche Welt, in der sich Liebespaare auf der Leinwand siezten, ungeachtet allen Stalinismus. Die Zerstörung des höflichen Russlands, worüber Custine voller Entzücken schrieb, hat Stalin überlebt. Ich habe seine Überbleibsel erwischt.
    *
    Kleiner, wenn du eine Oma hast, wenn sie noch nicht gestorben ist, tu ihr weh. Brich ihr den Arm, beiß ihr die welke Brustwarze ab. So hat es mir Onkel Slawa beigebracht. So. Nur so. Nur so geht’s. Abbeißen und ausspucken.
    Bäh!
    In jenem Sommer verschied Oma. Wütend hatte ich sie angeschrien: Alte Schreckschraube. Ich flehte um Verzeihung, fiel auf die Knie, heulte. Sie hat mir nicht verziehen. Unter Getue und tragischen Gesten wurde Vater gerufen. Oma bestand auf hartem Durchgreifen. Nebenan war eine Siedlung für zukünftige Kosmonauten. Der noch unbekannte Gagarin guckte des Nachts in die Sterne, und die Geldscheine waren so groß, dass ein erwachsener Mensch sich ohne weiteres hinhocken und den Hintern damit abwischen konnte. Die Gegend war wunderbar, also wirklich wunderbar. Hohe Birken, hohes Gras. Bis zu den Knien im Gras zum großen Teich runterzugehen war sehr angenehm. Ich erinnere mich an die Erwartung des Schlages, das ängstliche Sehnen der Gesichtsmuskeln, jetzt, jetzt gleich, gelähmte Wangen, Ohrensausen – Vater schlug nicht zu.
    Ich weiß nicht, wie man im Sommerhaus der Nachbarn das Essen kochte, wir jedenfalls kochten auf dem Petroleumkocher. Oma traute Elektroherden nicht, denn die Elektrizität hatte die Angewohnheit, den Geist aufzugeben. Der Petroleumkocher erhob sich über Leben und Haushaltsgeräte wie die Kopfbedeckung eines Hohepriesters, und er hatte ein lustiges Guckfenster wie der Ofen, in dem man damals die Verstorbenen verbrannte. Die Butter spritzte, Wurstscheibchen – Marke »Vorzugswurst« oder »Doktorskaja« – hüpften auf und nieder und krümmten sich und bekamen Ähnlichkeit mit Ohren. Mit sanfter Stimme sang Oma in den Garten hinaus:
    »Eeessen!«
    Im Garten war ich: mager und großköpfig, eierköpfig und nicht erweckt. Noch nicht ich. Noch-nicht-ganz-ich. Ich-nicht-ich im Alter von beinahe dreizehn, ganz erschöpft vor lauter Einsamkeit. Irgendwo im Park spielte Musik. Da war das panische Gefühl, dass das Leben vergeht und an mir vorbeigehen wird. Ich hockte auf einem Haufen Sand wie auf einem Misthaufen und spielte in völliger Hoffnungslosigkeit, aber mit Hingabe Eisenbahn. Es war eine Eisenbahn made in USSR , hässlich und strapazierfähig, das Gehäuse des Kesselwagens warf ich in den Müllschlucker, als ich schon verheiratet war. Oder ich las, bis ich ganz benommen war. Aus Einsamkeit verwandelte ich mich unerbittlich in einen gebildeten jungen Mann. Das völlige Fehlen von Freunden trieb mich in die Bekanntschaft mit Onkel Slawa.
    Ich nannte ihn nicht sofort Onkel Slawa. Die Sommerhäuser waren Staatseigentum und für die mittlere Ebene bestimmt, Zäune zwischen uns gehörten sich nicht. Wir wuschen uns in der Küche, zwischen Töpfen und Nachtfaltern, in einem Trog. Oder auf der Veranda. Immer diese extreme Abneigung, vor dem Schlafengehen die Füße in einer Schüssel zu waschen. Aus dem Teekessel goss Oma heißes Wasser dazu. Na, ist es warm? Wasch dir auch die Knie. Wozu hast du dich bloß mit dem eingelassen? Pass auf, du wirst noch deinem Vater schaden damit. Spritz nicht den Fußboden nass.
    Du tauchst den dicken Zeh ins Wasser. Brrr, noch wärmer! Sie gießt nach, die Träger des Büstenhalters stechen ins Auge, es dampft. Und wenn sie dich plötzlich verbrüht? Wieso denn? Ich hatte Angst bekommen, sie könnte mich in der Nacht erwürgen, weil ich jung war, also aus Neid. Hörst du, was ich sage? Er passt nicht zu

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