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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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bestellt. Auf dem Weg nach Hause dachte ich darüber nach, wie es mir wohl ergangen wäre, wenn der Milizionär meine Mutter angerufen und gesagt hätte, dass ich heimlich nackte Frauen beobachtet habe. Ich begriff, dass ich, wie man beim Schach eine Figur hergibt, die Mütze für die Ehre geopfert hätte und ohne sie weggelaufen wäre.
    *
    Ich bin ein Komsomolze. Ein Sowjetmensch war ich ein einziges Mal – als ich mit vierzehn dem Komsomol beitrat. Alle taten das, also auch ich. Trotz des Unterschieds zwischen Moskau und Paris. Wer nicht beitrat, musste weiter das idiotische Pionierhalstuch tragen, egal, ob bereits Härchen auf der Oberlippe sprossen oder nicht, und wer beitrat, bekam ein hübsches Komsomol-Abzeichen, damit sah die Schuluniform jedenfalls besser aus als mit dem roten Halstuch. Viele Mädchen waren schon Komsomolzinnen, sie wurden zuerst aufgenommen, und da noch Pionier zu bleiben war einfach peinlich. Über die Möglichkeit, dem Komsomol nicht beizutreten, dachte ich gar nicht erst nach. Der Komsomol war mehr so etwas wie eine Eingliederung in das Erwachsenenleben als eine ideologische Entscheidung. Außerdem ging es auch um den Nutzen für die Zukunft: Alle wussten, dass nur Komsomolzen studieren durften. Als man mich im Stadtbezirkskomitee fragte, welches mein Lieblingsbuch sei, sagte ich:
    » Die junge Garde. «
    Ich liebte Remarque, fand aber, dass Remarque nicht zum Komsomol passte. Ich verließ das Stadtbezirkskomitee mit einem ganz frischen Mitgliedsausweis, auf den ich sehr stolz war. Das war mein erster Ausweis. Die Saat des Konformismus war aufgegangen – man hatte mich durchgelassen. Offenbar hatte ich gute Chancen, sowjetischer Diplomat zu werden.
    *
    Erika hatte eine orangene Hülle mit einem goldfarbenen Reißverschluss. Aber wenn man die Hülle entfernte, wurde Erika irrsinnig schön, sogar schöner als die beiden Kunststudentinnen, die ich in Tschkalowskaja kennen lernte und mit denen ich abends am Lagerfeuer über moderne Kunst diskutierte. Die eine von beiden, Natascha, ebenfalls Tochter eines Botschafters, der ich für den Sommer den Staffelstab meiner Verliebtheit übergeben und mit weichen Knien nach einem nächtlichen Bad im Teich ein weißes, am Lagerfeuer leuchtendes Handtuch gereicht hatte, erzählte die Geschichte von Papanin, den ihr Vater kannte. Papanin hatte sich für sein ehrlich verdientes Geld eine große Datscha bei Moskau gebaut. Stalin erfuhr davon.
    »Warum laden Sie uns eigentlich nicht zur Einweihung ein?«, fragte Stalin ihn am Telefon.
    Papanin gab ein königliches Essen. Stalin kam zusammen mit Molotow und Woroschilow. Die Politbüromitglieder lobten die Datscha. Stalin hüllte sich in Schweigen. Vor dem Aufbruch brachte er einen Toast aus.
    »Genosse Papanin«, sagte er. »Danke. Trinken wir auf dieses neue Kinderheim!«
    »Aber Papanin hat doch für sein ehrlich verdientes Geld …«, rief ich verwirrt, ganz aufgeregt über die Geschichte.
    »Die Leute erzählen diese Geschichte mit Begeisterung«, bemerkte die namenlose Künstlerin, der ich ebenfalls ein weißes Handtuch brachte, aber sie genierte sich im Unterschied zu Natascha in der Dunkelheit nicht.
    »Vielleicht sind Kinder wichtiger als Papanin?«, änderte ich meinen Standpunkt, was ich in jenen Jahren öfter tat.
    »Schauen wir uns Modigliani an«, sagte Natascha.
    Sie hatte von der Datscha einen angenehm riechenden quadratischen Band aus dem Skira-Verlag mitgebracht.
    Erika stand über jeder Verliebtheit. Erika war sumpfig-metallisch. Erika klapperte mit den beschlagenen Hufen. Ihr schwarzes duftendes Band, das flink von einem zum anderen Rädchen lief, ihre feinen Finger mit den Buchstabennägeln – das war Liebe. Ich habe niemals – bis zum heutigen Tag – daran gedacht, dass Erika ein Frauenname sein könnte. Erika war der Name meines persönlichen Traums. Erika – so hieß die Schreibmaschine, die mich zum Schriftsteller machte. Erika ist das wichtigste Exponat meines persönlichen Museums. Theoretisch kann man bis heute auf ihr schreiben. Ein DDR -Produkt, ein schwerer, aber tragbarer Gegenstand. Wozu haben meine Eltern sie gekauft? Sie benutzten sie selten. Sie war so etwas wie ein Briefmarkenmarkt – meine Passion. Ich hatte sie ins Herz geschlossen. Umso mehr, als man sie mir nicht geben wollte. Man fürchtete, ich könnte sie kaputtmachen. Erika wurde vor meinem Zugriff hinter dem Schreibtisch versteckt oder unter dem Bett. Das Schreiben wurde von vornherein zu einem verbotenen

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