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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Thema. Ich tippte auf ihr einige Wörter, vertippte mich, verwechselte die Buchstaben – und begriff. Sie war nicht für Wörter, nicht für Buchstaben, sie war zum Fliegen da.
    Das erste Gedicht meines Lebens, auf Erika getippt, hieß »Maiglöckchen«. Es war Mitte Mai. Im Wald bei der Bahnstation Rasdory an der Strecke nach Ussowo sah ich Maiglöckchen und schrieb, suchte gequält nach Reimen. Das Gedicht schickte ich meinen Eltern nach Afrika. Meine Eltern schwiegen sich dezent dazu aus. Die Maiglöckchen spiegelten meine absolute literarische Talentlosigkeit.
    Zu dieser Zeit war ich bereits in einen Wortstrudel geraten. Das geschah in der achten Klasse. Den Hausaufsatz »Wie ich den Sommer verbracht habe« schrieb ich noch als leere Worthülse. Ich schrieb, wie ich den Sommer im vorbildlichen Ferienlager »Artek« verbracht hatte. Ich schrieb über die Stahlbetonkonstruktionen der Pionierwohnheime. Das war wie ein Brief an die Eltern – nicht das Eigentliche. Dort waren zahlreiche Kinder Fidel Castros, viele von ihnen mit eindeutig arabischem Aussehen, mit denen ich in die Berge ging und Bier trank. Im Pionier-Untergrund gab es einen georgischen Pionier mit einem riesigen Glied, das er uns während der Mittagsruhe im Zelt zeigte. Er verlangte Vergleiche. Er war bereit zum Schwänzewettstreit – das war ein neues Thema in meinem Leben. Dort war eine Pionierleiterin, bei der die Haare aus der Unterhose herausguckten. Sie liebte Françoise Sagan. Ich schrieb mit toten Worten. Puschkin entkorkte mich. Wir sollten über Jewgeni Onegin schreiben. Ich muss etwas geschrieben haben, was die Lehrerin erschreckte. Das war verrückt. Aus den toten Worten wurden lebendige. Alles erstrahlte. Die Lehrerin war richtig verschreckt. Es fehlte nur noch die Druckerpresse. Sie tauchte auf – und ich wurde Schriftsteller. Als Oma Sima sah, dass ich mich nachts im Wohnzimmer mit der Schreibmaschine einschloss, bekam sie einen Wutanfall:
    »Du schreibst Pornografie.«
    Eine wahre Kassandra. Ich schrieb Gedichte über Maiglöckchen. Meine Eltern lebten in Afrika. Oma Sima lebte eigentlich in Leningrad, aber wenn sie nach Moskau kam, las sie alles, was sie in den elterlichen Bücherregalen finden konnte: Balzac, Dickens, Tolstoi – ganze Werkausgaben. Ich habe nie wieder einen so süchtigen Leser gesehen. Sie vergaß sie alle wieder ganz schnell und las sie erneut – wie zum ersten Mal. Sie stellte eine Karikatur der Literatur in Aktion dar. Alles gerät in Vergessenheit. In Oma Sima grummelten dunkle Leidenschaften. Marina, meine Cousine zweiten Grades, vertraute mir viele Jahre später an, dass Serafima Michailowna einen Sexfimmel hatte; sie habe überall, in allem nur Geschlechtsorgane gesehen. Vermutlich hätten Oma Sima und ich viele Themen für gemeinsame Gespräche gehabt, doch dazu kam es nicht.
    *
    Nur träge Liberale haben Stalin noch nicht mit Hitler verglichen. Aber hinter Hitler stand lediglich eine entzündete nationale Idee. Eine Auferstehung Lenins, Trotzkis oder Hitlers ist unmöglich. Das sind ausgereizte Karten der Geschichte. Stalin hat ein anderes Schicksal. Auf seinem Gemälde hat nicht nur Iwan der Schreckliche seinen Sohn umgebracht, sondern ganze Völker wurden umgesiedelt. Er hat nicht deshalb allein gearbeitet, weil er misstrauisch war, sondern weil er einsam war. Er wollte die Welt verändern und hat das faktisch auch geschafft. Je mehr sich Vater für Stalin schämt, da er für ihn keine menschliche Rechtfertigung findet, desto mehr interessiert mich Stalin als Künstler, der seinen Weltentwurf in die Realität umgesetzt hat. Hinter Stalin steht ein großer Traum. Er hätte auch in Afrika oder den USA Realität werden können. Der Mensch ist für das Fliegen geschaffen wie der Vogel für das Glück. Stalin sagte, dass der Mensch fliegen könne. Nicht fliegen können nur Gutsbesitzer und Kapitalisten. Stalin schuf den großen Luftmythos. Tschkalow wurde der Vogelmensch. In der UdSSR wurde das größte Flugzeug der Welt gebaut. Alle mussten fliegen und mit Fallschirmen abspringen (mein Vater sprang auch mit dem Fallschirm ab). Zuerst mit dem Flugzeug fliegen und dann ohne.
    In diesen Traum setzte die europäische und amerikanische Elite ihr Vertrauen. Als ich Ende der achtziger Jahre das erste Mal nach Amerika kam, war ich erstaunt über die große Anzahl von wirtschaftlichen Begriffen im amerikanischen Wortschatz. Alle redeten von Krediten und Geschäften, das waren Wörter für den alltäglichen

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