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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Gebrauch. Mit solchen Wörtern kann man reich werden, aber nicht in den Himmel fliegen. Stalin wollte Ikarus haben. Stalin wollte fliegen. Dass er nur einmal mit dem Flugzeug geflogen ist, nach Teheran – und dabei schreckliche Angst hatte –, kann nur dem westlichen Kritiker Anlass zur Ironie bieten.
    Ich rannte zum Manege-Platz, um unter Militärlastern durchzukriechen, als Gagarin losgeflogen war. Ich mag sein Lächeln bis heute. Wir waren alle angesteckt vom Traum des Fliegens. Doch dem Menschen wachsen, wie sich zeigte, die Flügel nur langsam. Der Kampf für den Traum löste sich auf in Kleinigkeiten, schaltete um auf die Inbesitznahme der Welt. Molotow stritt mit Hitler um jedes Stück Land, um die Sowjetunion zu vergrößern. Das Fliegen wurde auf später verschoben – aber vergessen wurde es nicht.
    Stalin wollte vor seinem Tod seine alte Garde vernichten, die Zeuge seines Aufstiegs zur Macht war. Er wollte als ideales Konzentrat des Traums erhalten bleiben, ohne jede menschliche Beimischung. So träumt der erfolglose, verlassene Liebhaber vom Tod all derer, die Zeugen seiner Schande gewesen sind. Zumindest wechselt er seinen Freundeskreis. Stalin verlangte unter Folter Geständnisse – er wollte echte Feinde des Fliegens haben. Er hatte erkannt, dass es interessant ist, Menschen zu töten. Er genoss seinen Sadismus. Er lachte, als man ihm erzählte, wie Sinowjew zur Erschießung geführt wurde. Er ließ auch den erschießen, der ihn zum Lachen gebracht hatte. Aber er war ein grober, ungebildeter, unsensibler Mensch. Er liebte die Reproduktionen aus der Zeitschrift Ogonjok . Er brauchte keine Eremitage. Er erbrachte mit seinem ganzen Leben den Nachweis, dass die Menschen keine Flügel haben. Manch einer könnte einwenden, dass er damit offene Türen einrannte.
    Von den Menschen, die Russland bevölkern, kann man das jedoch nicht behaupten. Wenn sich über den Mülltonnen ein Schwarm Krähen erhebt, die sich auf den benachbarten Birken niederlassen oder am Himmel ihre Kreise ziehen, dann weiß ich: die Russen sind losgeflogen. Sie fliegen des Nachts. Sie wollen nicht über Kredite und Geschäfte reden. Sie träumen wie zuvor vom Fliegen. Sie träumen pathetisch, altmodisch. Das ist der Schlüssel zu meinem Vater, dem stalinschen Falken. Und der Schlüssel zu meinem Land. Für einen Traum ist kein Opfer zu hoch. Millionen kosten nichts. Die Juden können nicht fliegen – weg mit ihnen! Der Westen kann nicht fliegen – weg damit! Aber wenn es sein muss, dann bringen wir auch den Juden das Fliegen bei. Und wenn ich wie ein kleiner Ball in meiner Biberlammmütze und mit Fausthandschuhen an einem Bändchen um den Hals – Aí! – Wer da? – Aí! – schon draußen auf dem Treppenabsatz stand, um nicht im Wohnungsflur zu schwitzen, sang ich mit den anderen Jungen ein Lied, wobei wir mit Fingern auf die Mädchen zeigten, als wären sie keine vollwertigen Menschen:
    Flugzeuge kommen ganz zuerst im Leben.
    Und Mädels? Die Mädels kommen später eben.
    Wir spürten ganz richtig, dass das ein frauenfeindliches Lied war. Wir liefen in der Gruppe, immer zu zweit, den Twerskoi-Boulevard entlang. Die Eltern schickten mich in keinen staatlichen Kindergarten – bei all ihrem Stalinismus wählten sie für mich trotz allem eine private Kindergruppe, ein kümmerliches historisches Nebenprodukt der NÖP . Auf dem Holzrahmen des Sandkastens saß eine ältere Dame mit Hut und schwarzem Schleier. Sie schien geradewegs einem Tschechow-Stück entstiegen. Sie war schwerfällig, litt unter Atemnot. Sie konnte eindeutig nicht fliegen. Sie war wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen. Unter uns – den fliegenden Kindern. Aber unser Lied war nur ein Glied in der Kette der fliegenden Bilder.
    Die fliegende Kellnerin wurde zur Heldin der sechziger Jahre. Die fliegende Untertasse ist eine Obsession des russischen Okkultismus der Perestroika. Wenn nicht fliegen, dann wenigstens laufen. Der russische Gott ist ein Läufer. Laufen, schwimmen, gehen, oft den Arbeitsplatz wechseln (»Zugvogel«), durch die Gegend pilgern, aus dem Gefängnis fliehen – nur nicht auf der Stelle stehen. Dabei handelt es sich um eine selten träge Nation. Wenn ich überlege, warum ich so viel geflogen bin, dann verstehe ich, dass der Traum auch mich berührt hat. Auch ich bin ein Fliegender. Gegen diesen Traum anzukämpfen ist möglich. Aber die Russen werden das nicht begreifen. Oder sie werden sich gänzlich verändern. Russland ist ein Flugplatz

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