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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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das Monopol wurde als Dehermetisierung der Macht verstanden. Im Dezember 1977 , im Alter von dreißig Jahren, kam mir der wahnwitzige Gedanke, eine literarische Atombombe herzustellen.

5
    Jeden Tag sickerte disharmonisch Beerdigungsmusik durchs Fenster zu uns herein. Meine Frau und ich hatten in Moskau eine winzige Wohnung gemietet, die dem Wiener Chauffeur meines Vaters gehörte und gegenüber dem Wagankowo-Friedhof lag. Auf dem alten Friedhof gab es schon lange keine neuen Beerdigungen mehr, allerdings war es möglich, Verstorbene zu Verwandten »dazuzulegen«, und »ausnahmsweise« ging letztlich alles. Neben unserem Haus war eine Sargtischlerei, die ihre frisch gestrichenen Sargdeckel zum Trocknen direkt auf die Straße stellte. Unser eineinhalbjähriger Sohn griff aus dem Kinderwagen nach den Deckeln, woraufhin sie umfielen, zum Ärger der Sargmacher. Die Friedhofsatmosphäre begünstigte meinen teuflischen Plan: Ich wollte die sowjetische Literatur begraben.
    Vor meinem inneren Auge stand das Beispiel der avantgardistischen Maler in Moskau. Nach der berühmten »Bulldozer-Ausstellung« unter freiem Himmel, die verboten und von Bulldozern platt gewalzt wurde ( 1974 ), eroberten die Maler unter dem Druck der Weltöffentlichkeit für sich einen beneidenswerten Schatten von Unabhängigkeit: Der Sozialistische Realismus trat den Rückzug an. In der Literatur spitzte sich die Lage bis ins Absurde zu: zu benutzen, um des staatsfeindlichen Pessimismus bezichtigt zu werden. Die einzige liberale Zeitschrift Nowy mir war schon Ende der sechziger Jahre zerschlagen worden. Hin und wieder durfte ich bei Lesungen meine Erzählungen vortragen. Auf einem Abend für »schöpferische Debüts« im »Haus des Schauspielers« am Puschkin-Platz, das viele Jahre später niederbrannte, las ich nach dem Auftritt einer jungen Ballerina, stotternd vor Aufregung, meine Erzählung Satansbraten , in der es um Graffiti in öffentlichen Toiletten geht; sie rief im Saal einen Schock hervor. Einer Frau wird es angesichts eines jungen Schwanzes schwindlig. Aber es geht gar nicht um das Thema. Die Erzählung war bereits ins Dasein aufgenommen. Sie lebte und bebte wie eine menschliche Leber unter Frischhaltefolie, sie hatte den Inhalt, das Thema, sich selbst in Stil verarbeitet, sich selbst mit einem Stil identifiziert. Sie war Erzählung und Stil in einem. Mehr war nicht zu beweisen. Ein betagter Schauspieler rief mit gut ausgebildeter Theaterstimme in den Saal:
    »Das ist purer Unflat!«
    Ungeachtet dessen, dass unser Land in den Stalinismus abdriftete, konnte ich Anfang der siebziger Jahre die Zensur zweimal überlisten und in der Zeitschrift Woprossy literatury (nach dem Weggang Twardowskis von Nowy mir wurden diese zarten Knospen des Liberalismus rasch von der Intelligenzija bemerkt) erstmals in Russland eine umfangreiche Untersuchung zu Marquis de Sade veröffentlichen und später noch einen Artikel über Schestow. Die Staatsmacht spitzte die Ohren. Der Aufsatz über Schestow (roter Umschlag, Nummer 10 / 1975 ) wurde durch die Kulturabteilung des ZK zum »ideologischen Fehler« der Zeitschrift erklärt. Vater versuchte, mich als Übersetzer bei der UNESCO unterzubringen (nach seiner Rückkehr aus Paris). Barabasch, der Direktor des Instituts für Weltliteratur, verweigerte mir die notwendige Beurteilung und begann mich aus dem Institut hinauszudrängen.
    Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht mit Schestow ausgerutscht wäre? Wäre ich in Paris geblieben, oder hätte ich den der Zeit entsprechenden gemäßigt konformistischen Weg vorgezogen? Was hätte ich schreiben können, oder hätte ich meine Fähigkeiten in den Pariser Restaurants verfressen?
    Doch ich hatte keine Wahl. Im Unterschied zu den meisten meiner Kollegen und der Intelligenzija insgesamt kannte ich die Staatsmacht nicht nur vom Hörensagen. Eigentlich war ich selbst ein Sohn der Staatsmacht, da ich, formal gesehen, der Moskauer »goldenen Jugend« angehörte. Das waren die Kinder von Politbüromitgliedern, Referenten Breshnews, Ministern, Botschaftern und hohen Militärs. In der Regel heirateten sie untereinander, unterstützten Hockeymannschaften, besaßen anständige Wohnungen mit jugoslawischen Möbeln im »Adelsnest« von Kunzewo, fuhren zur Safari nach Afrika und Wasserski auf der Moskwa, machten Picknick auf Regierungsdatschas, guckten sich Pornohefte an, die sie ihren Vätern aus dem Schreibtisch gestohlen hatten, und bumsten die Friseusen ihrer Mütter, die sie

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