Der gute Stalin
seiner Ernennung zum stellvertretenden Außenminister, vor dem Hintergrund eines großen Skandals seine Arbeit verlor – den Posten des gesandten Repräsentanten der UdSSR bei den Vereinten Nationen in Wien; er wurde nach Moskau abberufen, und das Leben unseres Familienclans versank in Düsternis.
Der Ehrenbürger Wiens, des Knotenpunkts internationaler Spionage, der Nekrophilie, der Mehlspeisen und der Musik, Sigmund Freud, konnte mit mir zufrieden sein: Ich leistete einen persönlichen Beitrag zu seiner Theorie der Vater-Sohn-Beziehung, die zum Gesetz eines ganzen Jahrhunderts wurde. Aber wenn ich ihm Vorschub leistete, dann ungewollt und ohne Sympathie. Ich war der Letzte, der zur Rolle des Vaterhassers taugte. Meine ganze Kindheit hatte ich panische Angst, den Eltern Schaden zuzufügen, als ob es in meiner Macht gelegen hätte, dies zu tun. Heute, wenn ich die Freude meines Sohnes sehe, wenn er mich im Tischtennis besiegt, erinnere ich mich an meine perverse Eigenheit, die Gefühle meines Vaters sogar da zu schonen, wo seine Fähigkeiten sehr viel größer waren als meine. Ich hatte Angst, ihn zufällig im Schach zu schlagen, obwohl er auf dem Niveau eines Meisters spielte und ich immer Dilettant blieb, ich begann nervös zu werden, wenn es beim Tennis zufällig vierzig zu fünfzehn für mich stand.
Mein Mord war jedoch nur insoweit nicht vorsätzlich, als meine Unüberlegtheit, Verwöhntheit und verächtliche Ablehnung der Verhältnisse in dem Lande, in dem ich lebte, dazu führten. Mit anderen Worten, er war beinahe gänzlich durch die Lebensbestimmung festgelegt. Er geschah in einer grausamen und empfindlichen Dimension des sowjetischen Lebens, die Politik hieß, aber je weiter er zurückliegt, desto klarer sehe ich darin nur den lokalen Fall einer universalen Kollision, die überall hätte stattfinden können, von den USA bis Japan und Südafrika.
An allem ist natürlich die Literatur schuld. Vater las nur Zeitungen und die »weiße TASS « – Informationsberichte für den internen Gebrauch. (Das war auch meine Lektüre. Gestohlene. Zu gern las ich sie, die »geheimen« TASS -Berichte. Vater versteckte sie zwischen Zeitungen in seinen Schreibtischschubladen. Mama las gern vor dem Einschlafen L’Express und besonders den Nouvel Observateur , als ob darin die wöchentliche Dosis Lebenswahrheit zu finden gewesen wäre. Ich war vermutlich der treueste Verehrer der Welt von Time und Newsweek .) Ich habe Vater niemals mit einem Roman in der Hand gesehen, erst recht nicht mit einem Gedichtband, aber meine Mutter, die Dreyser für seine russische Werkausgabe übersetzt hatte, impfte mir mit den Büchern von Jules Verne und Jack London früh die Liebe zum Lesen ein. Ich wurde erwachsen und dermaßen unmerklich für mich selbst Schriftsteller, dass ich, weit entfernt von literarischen Kreisen lebend, lange Zeit meine kindliche überschäumende Fantasie und das Herumschwirren von Seifenopern in meinem Kopf für die durchschnittliche Fantasienorm hielt. Von meinem Talent nichts ahnend, war ich bereit, jeden damit zu beglücken.
Ich begriff erst, als es kein Entkommen mehr gab – auch meine Eltern konnten bis zu dem politischen Skandal nicht begreifen, wie ein Schriftsteller aus dem Nichts kommen kann, und betrachteten mich mit wachsendem Argwohn. Und tatsächlich schrieb ich ja bereits weiß der Teufel was: nichts politisch Aufrührerisches, nichts Dissidentisches, aber entschieden unanständige Erzählungen, die (wie mir schien) die Grundlagen des Lebens aufdeckten. Mal zweifelte ich zutiefst an mir, mal sah ich mich als jungen Dostojewski.
Ich wollte gedruckt werden wie jeder, der schreibt, aber mein Land war dazu eindeutig nicht bereit. Da fasste ich mich in Geduld: Ich schrieb Erzählungen »für die Schublade«, dafür aber begann ich literarische Essays zu veröffentlichen. Sie hatten Erfolg (Jewgenija Ginsburg, Axjonows Mutter, sagte nach der Lektüre meines Aufsatzes über Schestow zu ihrem Sohn: »Ein neuer Philosoph ist geboren.«), und ich wurde ungeachtet ideologischer Fragwürdigkeit in den Schriftstellerverband aufgenommen (mit Ach und Krach, aber immerhin). Wenn ich etwas vom Standpunkt der Staatsmacht Zweifelhaftes tat, hatte Mama immer gleich die stereotype Frage parat:
»Wozu brauchst du das?«
Hier regte sich ein unterbewusster Pragmatismus, der die wahre Qualität einer Handlung beurteilte. Mama hatte trotz allem den Materialismus verinnerlicht, sie besaß die Fähigkeit, komplizierte Dinge
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