Der gute Stalin
und von der Staatsmacht geschickt »für den Export« benutzt wurden, mit Dissidenten zusammenzubringen, die aus dem öffentlichen Leben gestrichen waren, und deren gemeinsamen Protest zu demonstrieren, das bedeutete, die Staatsmacht der bewussten Vernichtung der modernen Kultur zu beschuldigen und sie zu Zugeständnissen zu drängen. Bei einem Spaziergang über die ungepflegten Alleen des Wagankowo-Friedhofs überdachte ich, während ich die Inschriften auf den Grabsteinen las, die vor den Lebenden durch silberfarbene Zäunchen geschützt waren, und Mitleid für die jung Verstorbenen empfand (warum waren es so viele?), die vorläufige Liste der Autoren, war mir jedoch darüber im Klaren, dass ich dieses Vorhaben nicht allein bewältigen konnte. Ich hatte nicht genug Verbindungen und keine Autorität unter den Schriftstellern.
Die Formulierung im Vorwort zu Metropol , wie der Almanach dann hieß, dass er vor dem Hintergrund von Zahnschmerzen entstanden sei, ist nicht nur eine Metapher. Bekanntlich haben Schriftsteller schlechte Zähne. Wassili Axjonow, der gemäßigte »Westler« in der damaligen Literatur, und ich waren beide im Zahnärztlichen Zentrum in der Wutetschitsch-Straße in Behandlung. Man platzierte uns in nebeneinander stehende Behandlungsstühle. Ein surrealistisches Interieur: ein Riesensaal ohne Zwischenwände, erfüllt von Zahnarztgeräuschen. Und hier verführte ich, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck aufsetzend, den berühmten Freund mit meinem Projekt.
»Lass uns den Almanach im Westen herausbringen«, meinte Axjonow.
»Nein. Lass ihn uns hier herausbringen«, beharrte ich.
In Peredelkino, auf der kalten Terrasse des ewig nicht renovierten Schriftstellerhauses, gewann ich Andrej Bitow, den Autor des Romans Das Puschkinhaus , für den Almanach. Wir waren befreundet. Er hielt mich für einen umgekehrten Lomonossow. Der dritte Verführte wurde mein Altersgenosse, der Sibirier Jewgeni Popow, der 1979 mit seinem Prosa-Debüt in Nowy mir Aufmerksamkeit erregt hatte. Popow und ich hatten uns auf einem Treffen junger Prosaiker in Peredelkino kennen gelernt und angefreundet, vielleicht deshalb, weil wir uns absolut unähnlich sind. Als ich ihm in der Wohnung am Wagankowo-Friedhof von der Almanach-Idee erzählte, umarmte er mich beinahe evangelisch. Dann schloss sich uns auf Empfehlung Axjonows noch Fasil Iskander an, der abchasische Faulkner mit gesamtrussischem Namen. Das war der Kern der Verschwörung, ein starkes Team, und die Sache nahm ihren Lauf.
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Ende des Jahres 1978 hatten wir einen dicken Band zusammen: mehr als zwanzig mit Bedacht ausgewählte Autoren aus vier Generationen: Jeder Einzelne, vom Lyriker Semjon Lipkin, der schon Gorki aufgefallen war, bis zum jungen Leningrader Erzähler Pjotr Koshewnikow, war auf seine Art talentiert. Metropol wurde kein Manifest irgendeiner Schule (wie es in der Regel bei solchen Publikationen in Russland der Fall ist); wir entwickelten spontan die Idee eines ästhetischen Pluralismus. Das war mehr als eine ästhetische Neuerung – das war ein Hinweis auf die Zukunft. Mit den Texten des Almanachs entstand ein enttabuisiertes Bild von Russland, mit seiner religiösen Suche, seinen sexuellen Katastrophen, betrunkenen Prügeleien, nationalen Konflikten, seinem verrückten Humor, seinem heterogenen intellektuellen Potenzial, seiner wie ein Reifen qualmenden Mentalität, mit neuester art risqué und traditioneller rigoroser Ästhetik. Das war ein im Entstehen begriffenes Modul Russlands, das nach Selbsterkenntnis strebte.
Die betuchten Liberalen und Autoliebhaber rauchten auf unseren konspirativen Zusammenkünften amerikanische Zigaretten, die in diesen Jahren schwer zu beschaffen waren; die armen Dissidenten qualmten stinkende sowjetische Papirossy. Es wurde heftig diskutiert. Die Dichterinnen führten untereinander giftige Auseinandersetzungen: Bella Achmadulina, das Idol der Jugend, die Eroberin der Stadien, und Inna Lisnjanskaja, die Dichterin der leisen Töne. Einige nahmen wir nicht mit ins Boot, so Jewgeni Jewtuschenko, der damals anfing, mit der Staatsmacht zu spielen. Der eine oder andere zog sein Manuskript zurück. Der Romanschriftsteller Juri Trifonow erklärte seinen Entschluss damit, er könne besser mit seinen Büchern gegen die Zensur kämpfen, der Dichter Bulat Okudshawa damit, dass er das einzige Parteimitglied unter uns sei. Auch Ljudmila Petruschewskaja hielt sich heraus. An der Tür (die Wohnung der seligen Jewgenija Ginsburg,
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